Im Gehirn gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Zelltypen mit verschiedenen Funktionen. Wie diese Diversität entsteht, haben deutsche Forscher untersucht.
Das Schicksal der meisten Zellen wird während der Entwicklung festgelegt. Ohne Differenzierung könnte aus einer befruchteten Eizelle kein Organismus mit verschiedenen Gewebearten entstehen. Die Eizelle ist dabei zunächst in der Lage jeden Zelltyp zu bilden. In den nachfolgenden Zellen lässt diese Fähigkeit allmählich nach, so dass gegen Ende der Embryonalentwicklung Zellen meist nur noch zu einem bestimmten Zelltyp differenzieren können.
Eine besonders große Vielfalt an Zelltypen findet sich im Gehirn, wovon die Mehrheit Gliazellen und Nervenzellen sind. Diese lassen sich noch weiter in unzählige spezialisierte Zelltypen unterteilen: Es gibt allein über 100 verschiedene Typen nur an hemmenden, sogenannten inhibitorischen Nervenzellen. Sie entstehen aus neuronalen Vorläuferzellen, die sich am Anfang der Entwicklung mehrmals teilen. Ihre Tochterzellen bilden im späteren Verlauf die unterschiedlichen Zelltypen aus.
Eine ungeklärte Frage ist immer noch, wie im Menschen innerhalb weniger Monate oder in der Maus innerhalb weniger Tage aus undifferenzierten Vorläuferzellen diese enorme Diversität an Zelltypen entsteht. Ein Team um Dr. Christian Mayer vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried untersuchte die Mechanismen, die zur Zellvielfalt im Gehirn der Maus führen. Dabei interessierte sie, ob unterschiedliche Zelltypen aus einer einzelnen Vorläuferzelle entstehen können und zu welchem Zeitpunkt das Schicksal der Zellen festgelegt wird.
Die Wissenschaftler entwickelten eine neue Technik, um Vorläuferzellen eindeutig zu markieren. Dazu erstellten sie eine Sammlung an Millionen von Barcodes aus künstlichen DNA-Sequenzen. Ganz ähnlich wie die Strichcodes zum Einscannen von Produkten, erhielten die Vorläuferzellen ihre unverkennbare Markierung, in dem die Forscher einen der Barcodes in jeweils eine Zelle einbrachten. Wenn sich die Zelle nun teilte, gab sie den Barcode an ihre Tochterzellen weiter. So ließ sich erkennen, welche Zellen voneinander abstammen. Diese Methode kombinierten die Forscher mit der Einzel-Zell-RNA-Sequenzierung, welche die aktiven Gene in einer Zelle sichtbar macht. Anhand dieser Information konnten die Forscher die Barcode-markierten Zellen in verschiedene Zelltypen einteilen.
Durch die Kombination der beiden Methoden zeigten die Wissenschaftler, dass ausgehend vom Zelltyp nicht auf den Verwandtschaftsgrad geschlossen werden kann: Anders als oft angenommen, lassen sich Zellen eines ähnlichen Zelltyps häufig nicht auf einen gemeinsamen Ursprung in der Entwicklung zurückführen. Das bedeutet, dass nicht verwandte Vorläuferzellen ähnliche Zelltypen hervorbringen können (Konvergenz).
Ebenso konnten die Wissenschaftler das umgekehrte Szenario an inhibitorischen Nervenzellen belegen: Selbst unterschiedliche Zelltypen in unterschiedlichen Gehirnstrukturen können von der gleichen Vorläuferzelle abstammen (Divergenz). Dabei scheint die Vorläuferzelle der Nervenzelle ihr Schicksal mit auf den Weg zu geben – die Differenzierung beginnt somit auf Ebene von Vorläuferzellen und nicht erst später durch äußere Einflüsse. Demnach kann eine Vorläuferzelle unterschiedlichste Nervenzelltypen hervorbringen, und das überraschenderweise bis spät in die Entwicklung – ein Zeitpunkt, bei dem davon ausgegangen wurde, dass dieses Potential nicht mehr besteht.
Die Wissenschaftler erwarten, dass auf Basis dieser Ergebnisse zukünftig Störungen in der neurologischen Entwicklung besser verstanden werden. So könnte das Untersuchen der Verwandtschaftsgrade von Zellen Aufschluss darüber geben, warum bestimmte Nervenzellgruppen von genetischen Mutationen betroffen sind, die neurologische oder psychiatrische Krankheiten hervorrufen. Zudem lässt sich die neu entwickelte Methode auf jeden anderen Gewebetyp ausweiten und ermöglicht so ein enormes Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Edgar Castrejon, Unsplash