Das Chronische Fatigue-Syndrom rückt wegen Long Covid immer mehr in den Fokus von Medizinern. Doch was sind die Gemeinsamkeiten und wo liegen die Unterschiede?
Nach zwei Jahren Pandemie und etlichen Studien zu COVID-19 bleiben immer noch viele Fragen zu den Langzeitsymptomen nach einer SARS-CoV-2-Infektion offen. Eines der zahlreichen Long-Covid-Symptome zeichnet sich unter anderem durch die Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit, Konzentration und des Gedächtnisses aus – besser bekannt als Gehirnnebel (engl. brain fog). In einem kürzlich veröffentlichten Preprint haben sich Forscher den Mechanismus dahinter im Mausmodell genauer angeschaut.
Das Long-Covid-Symptom teilt einige Merkmale mit dem sogenannten Chemogehirn, einer kognitiven Beeinträchtigung bei Krebspatienten nach durchgemachter Chemotherapie. Bei letzterem spielt die Neuroinflammation eine besondere Rolle: Im Zentrum stehen die Reaktivität der Mikroglia und die darauffolgende Dysregulation der Hippocampus-Neurogenese und der Oligodendrozyten-Zelllinie. Die Forscher vermuteten, dass dem brain fog ähnliche zelluläre Mechanismen zugrunde liegen müssten, die selbst mit einer leichten SARS-CoV-2-Infektion einhergehen.
Hierfür untersuchten sie Mäuse mit milden SARS-CoV-2-Infektionen, die sich lediglich auf den Respirationstrakt begrenzten. Das Virus stellte sich nach der Infektion nicht als neuroinvasiv heraus, sondern verbreitete sich lediglich in der Lunge der Mäuse. Doch wie die Wissenschaftler bereits vermuteten, zeigte sich eine erhöhte spezifische Reaktivität der Mikroglia in der subkortikalen weißen Substanz. In den Mäusen blieb diese Entwicklung für mindestens 7 Wochen nach der Infektion bestehen. Auch Gehirngewebsproben von bereits Verstorbenen, die an COVID-19 erkrankt waren, zeigten ein ähnliches Muster: Sie wiesen ebenfalls eine erhöhte spezifische Reaktivität der Mikroglia in der subkortikalen weißen Substanz auf. Die Ergebnisse deuten auf eine langfristige neuronale Schädigung hin, selbst bei einer milden SARS-CoV-2-Infektion.
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Anscheinend besteht bei einer COVID-19-Erkrankung nicht nur die Gefahr einer langfristigen neurologischen Inflammation: Eine Publikation in Nature zeigt auch eine persistierende immunologische Dysfunktion bei Long Covid auf. Insgesamt wurden 147 Patienten in die Untersuchung eingeschlossen, von denen 31 Teilnehmer tatsächlich die Diagnose Long Covid erhielten – basierend auf den drei Symptomen Fatigue, Dyspnoe oder Brustschmerz. Long-Covid-Patienten wiesen demnach vermehrt aktivierte unspezifische Immunzellen auf, gleichzeitig fehlte es ihnen an naiven T- und B-Zellen und sie zeigten eine erhöhte Interferon-Expression, die bis zu 8 Monate nach der Infektion anhielt.
Diese Befunde weisen wiederum auf eine laufende und anhaltende Entzündungsreaktion hin, die bereits nach einem leichtem bis mittelschweren COVID-19-Verlauf in Form von Long Covid folgen kann. Das langfristig „abnormale Immunprofil“ von COVID-19-Patienten liefere außerdem klare Hinweise für die Existenz von Long Covid, schreiben die Autoren.
„Es werden verschiedene virusgetriggerte Pathomechanismen diskutiert, die eventuell auch kombiniert wirken: Von zentraler Bedeutung sind Inflammation, Autoimmunität und eine gestörte Mikrozirkulation“, erklärt Prof. Uta Behrends von der TU München der DocCheck News Redaktion zu den möglichen Ursachen von Long Covid. Inwiefern länger verbleibende SARS-CoV-2-Bestandteile oder eine Reaktivierung von latenten Infektionen zur Pathogenese beitragen könnten, sei noch unklar.
Anders sehen es die Autoren einer französischen Studie, die eine mögliche psychosomatische Ursache aufführen: Darin wurden Teilnehmer befragt, ob sie eine SARS-CoV-2-Infektion erlitten hatten (wir berichteten). Diese hatten zuvor keine bestätigte Infektion, sodass die Forscher mithilfe einer ELISA untersuchten, ob die Teilnehmer auch SARS-CoV-2-Antikörper nachwiesen. Lediglich die Anosmie als vermerktes Symptom ging mit einem tatsächlich positiven Antikörpernachweis einher. Daraus schlossen die Forscher, dass möglicherweise einige der Long-Covid-Symptome gar nicht auf COVID-19 zurückzuführen seien.
In einem Leserbrief der Initiative Long COVID Deutschland, vertreten durch Dr. Claudia Ellert, gab es einen weiteren Kritikpunkt: Außer Acht gelassen wurde bei dieser Studie unter anderem, dass bei einigen nachweislich mit SARS-CoV-2-Infizierten bereits wenige Wochen nach der Infektion keine Antikörper mehr nachgewiesen werden können. Genesene weisen im Vergleich zu Geimpften auch Antikörper gegen das Nukleokapsid auf, die auch in Studien über die deutsche Infektionslage des Robert-Koch-Instituts (RKI) als Parameter zur Differenzierung verwendet werden.
Das RKI weist darauf hin, dass die Antikörperkonzentration nach einer gewissen Zeit rückläufig ist und dann auch unter ihren Studienteilnehmern nicht mehr nachgewiesen werden können. Dies treffe insbesondere auf Antikörper gegen das Nukleokapsid zu. „Somit wird der Anteil der Proben mit Antikörpern nach natürlicher Infektion vermutlich etwas unterschätzt und im Umkehrschluss der Anteil der Impfantikörper etwas überschätzt“, heißt es. Auch das Paul-Ehrlich-Institut wies erst kürzlich darauf hin, dass die Auswertung von Antikörper-Nachweisen gar nicht so einfach ist (wir berichteten).
Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS weist auf eine weitere Herausforderung hin: Medial habe Long Covid bereits viel Aufmerksamkeit bekommen, doch in der medizinischen Fachwelt wurde es bislang eher abwartend betrachtet. Letzteres sei darauf zurückzuführen – ähnlich wie in der französischen Studie –, dass die „post-viralen Beschwerden in den Bereich der Psychosomatik statt in der Immunologie oder Neurologie“ verordnet werden. Dies wirft aber auch eine weitere Frage auf: Werden post-virale Symptome generell unterschätzt?
Ein Beispiel dafür ist die Myalgische Enzepahlomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS): „Eine komplexe, schwere Multisystemerkrankung, die in jedem Alter auftreten kann, die Alltagsfunktion erheblich beeinträchtigt und im ICD-10 mit dem Schlüssel G93.3 als Erkrankung des Nervensystems kodiert wird“, erklärt Behrends. Aber sie ist nicht mit dem Symptom der Fatigue zu verwechseln, was wiederum ein typisches Begleitsymptom vieler chronisch-entzündlicher Erkrankungen sein kann. Neben der schweren Fatigue sind die Post-Exertionelle Malaise (PEM), neurokognitive, neuroendokrine und immunologische Symptome, sowie Fehlfunktionen des Autonomen Nervensystems, Schlafstörungen und Schmerzen charakteristisch für ME/CFS. Die genauen Mechanismen der Erkrankung sind bisher noch ungeklärt; eine mögliche Autoimmunerkrankung ist eine viel diskutierte Ursache. Doch was hat ME/CFS mit Long Covid zu tun?
„Long Covid ist ein Überbegriff, wenn 4 Wochen nach Beginn der Infektion noch Symptome bestehen“, erklärt Frau Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz der Charité in Berlin, der DocCheck News Redaktion. „Long Covid kann sehr unterschiedlich verlaufen: Von leichten Symptomen bis zu einer schweren Erkrankung, Fatigue, kognitiven Störungen und Atembeschwerden sind häufig. ME/CFS ist die schwerste Form von Long Covid.“ Eine Erkrankung an ME/CFS kann nach einer durchgemachten Infektion auftreten, unter anderem nach einer Epstein-Barr-Virus-, Influenzavirus-, Enterovirus-, SARS-CoV-1- oder nun auch bei einer SARS-CoV-2-Infektion.
Die Therapie von Long Covid oder ME/CFS ist schwierig, da es für beides bisher keine zugelassenen Medikamente gibt. „Die Behandlung von Long Covid ist bei den meisten Erkrankten symptomorientiert und die Reha spielt eine wichtige Rolle“, erläutert Scheibenbogen und verweist auf die S1-Leitlinien der AWMF. „Auch die Behandlung von ME/CFS ist bislang nur symptomorientiert. Bei einer Reha muss Pacing berücksichtigt werden.“ Pacing bedeute das Erkennen und Respektieren der eigenen Belastungsgrenzen, mit dem Vermeiden von krankheitsverschlechternder Überlastung, führt Behrends weiter aus. „Experimentell werden für Long Covid und ME/CFS Modulatoren von Immunsystem und Gefäßfunktion diskutiert oder bereits untersucht, darunter Aphereseverfahren, Aptamere und Immunsuppressiva.“
Doch nicht nur in der Symptomatik gibt es viele Überschneidungen zwischen Long Covid und ME/CFS, auch in der Prävalenz: „In beiden Fällen sind die mittleren Altersgruppen von Erwachsenen sowie in geringerem Maße Jugendliche und selten junge Kinder betroffen. Ab der Pubertät zeigt sich eine Mädchen- bzw. Frauenwendigkeit“, erläutert Behrends. Für ME/CFS wurde vor der Pandemie eine Gesamtprävalenz von etwa 0,3 % diskutiert. Das ergebe etwa 250.000 Betroffene in Deutschland, darunter 40.000 Kinder und Jugendliche, so Behrends.
„Weltweit wird mit einer pandemiebedingten Verdoppelung der Zahl von ME/CFS Betroffenen gerechnet, mit mindestens zehn Millionen neuen Fällen weltweit“, sagt Behrends. „Außer Frage steht, dass die Krankheitsbilder ME/CFS und Long Covid in allen Altersgruppen auftreten können und angemessen versorgt werden müssen, um individuelle und gesundheitsökonomische Spätschäden zu verhindern.“
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Bildquelle: Dominik kielbasa, unsplash