Entwickeln Kinder Essstörungen, ist die Familie häufig erst mal überfordert. Die ersten Hinweise, die euch als Ärzte aufhorchen lassen sollten, habe ich hier zusammengefasst.
Am meisten muss ich mich ja an die drei „s“ in dem Wort Essstörung gewöhnen, auch wenn diese Rechtschreibregel schon uralt ist. Aber ich habe in den letzten Jahren so häufig diese Diagnose verschlüsseln müssen – jedes mal stolpere ich über diese Schreibweise. Aber dies hier soll kein Orthografie-Posting werden, sondern es geht um: Essstörungen. Wer sich also getriggert fühlt, möge bitte abschalten.
Die Coronalage spielt auch bei diesem Krankheitsbild eine große Rolle, genau wie bei Depressionen, Konzentrationsstörungen in der Schule, zunehmendem Schulabsentismus, Soziophobien und zunehmenden Belastungen der Familien. Vor allem der Kinder in den Familien, aber auch der Eltern, die sich so viel wie nie und so lange wie je mit ihren Kindern auseinander setzen mussten.
Eine Essstörung kann für manche Menschen ein Ausweg aus einer Zwangslage sein, eine Sublimierung eines Problems, eine Konzentration auf ein Thema, um einem anderen aus dem Weg zu gehen. Corona ist da nur der Trigger, Katalysator eines Zustandes. Denn eine Essstörung ist in den meisten Fällen eine langsame Entwicklung, die nicht von einem Tag auf den anderen mit der Entscheidung „ich esse jetzt einmal gestört“ kommt. Erbliche Faktoren spielen eine Rolle, vielen Patienten ist die Krankheit noch nicht einmal bewusst. Oder sogar ganzen Familien, denn die meisten Essstörungen beginnen noch in der Zeit der Kernfamilie, kurz vor oder während der Pubertät, wenn das jugendliche Gemüt sowieso beeinflussbar ist, orientierungslos.
Orientierung findet sich dann in eingeschränktem Essen, also wenig essen oder gar nicht essen, in überkorrektem, übergesundem Essen. Aber auch in spezifischer Kost, die vermeintlich politisch motiviert daherkommt, also beispielsweise vegan oder vegetarisch, aber letztendlich unbewusst gewählt wird, um weniger oder gar nicht zu essen.
Dem Klischee nach finden wir jedwede Essstörung noch immer am häufigsten bei weiblichen Patienten. Das mag mit dem bewussteren Umgang mit dem eigenen Körper zu tun haben, mit den gesellschaftlichen Schönheitsidealen eines schlanken Körpers, mit der Beeinflussung durch Medien (sprich heute Instagram), denen Männer eben nicht so ausgesetzt sind. Auch die müssen aber bereits seit Jahren in zunehmendem Maße genauso auf Bodyshaping achten, auf die Ausbildung eines sportlichen, und damit medial geprägt attraktiven Körper. Männer betreiben Krafttraining und setzen häufiger Hilfsmittel ein, um ihren Körper zu formen. Auch in dieser Szene wird mehr und mehr auf übergesundes Essen geachtet. Es droht eine „Orthorexie“, also der krankhafte Versuch, nur „richtig gesundes“ oder „politisch korrektes“ Essen zu sich zu nehmen, ebenfalls eine Form der Essstörung.
Wir unterscheiden klassischerweise die Anorexie von der Bulimie, die sich in ihren Auswirkungen sehr ähneln und schließlich die Binge-Eating-Disorders, bei denen übermäßiges Essen oftmals mit einer Adipositas endet. Mischformen sind sehr häufig, auch zusätzliche psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen kommen in der Regel hinzu. Anorexie ist letztendlich die Extremform eines Nichtessens, die Bulimie das Pendant mit übervielem Essen (weil das so erwartet wird oder aus Frust) und dem anschließenden Erbrechen (zum Frustabbau und um nicht weiter zuzunehmen).
Gemein ist allen, dass eine Fixierung auf das Essen stattfindet, mit gleichzeitig gestörter Körperschemawahrnehmung. Die Patienten halten sich immer für zu dick, egal, wie dünn sie sind. Alleine die Furcht des Zunehmens führt zum Eingrenzen der Kalorienmenge.
Anfangs wird dann „gepickt“, also Kalorien gezählt oder vegetarisch oder vegan gegessen – oder übergesund, wie oben beschrieben. Der gesamte Tagesablauf ist vom Thema Essen oder Nichtessen bestimmt. Bauchschmerzen werden nicht als Hunger verstanden, sondern als Unwohlsein, um nicht mehr zu essen. Völlegefühl ist automatisch Unwohlsein, die Aufnahmekapazität des Magens nimmt ab, dadurch entsteht ein früheres Völlegefühl. Trinken ersetzt das Essen (aber nur Wasser, bitte …), Energie geben „erlaubte“ Süßigkeiten oder Traubenzucker, zusätzliche Kaloriensenker wie übereifriger Sport oder Treppensteigen kommen hinzu. Im Extremfall wird schneller gelaufen statt spaziert, Kniebeugen und Liegestütze bei jeder Gelegenheit absolviert, der Hund „geht häufiger Gassi“ als je zuvor.
Die Folgen sind fatal: Der Körper wird nicht mehr mit ausreichend Nährstoffen versorgt, nach der Gewichtsabnahme kommt die trockene Haut, Konzentrationsprobleme, brüchige Haare oder Haarausfall, Kreislaufreaktionen. Die Menstruation bleibt aus, bei Männern lässt die Potenz nach, die Libido kommt zum Erliegen. Die Herzfrequenz verlangsamt sich, der Blutdruck sackt ab. Knochen werden osteoporotisch und brechen leichter, Seh- und Hörstörungen kommen hinzu. Durch das wiederholte Erbrechen ergeben sich Schleimhautentzündungen im Mund und Rachenraum, die Zähne erodieren.
Häufig isolieren sich Betroffene auch sozial, oder sie gehen toxische Beziehungen ein, die sie unbewusst in ihrem Verhalten unterstützen. Die Verfügbarkeit von online Pro-Ana- oder Pro-Mia-Gruppen stärken die vermeintliche gesellschaftliche Akzeptanz und verschieben das Körperschema zum Ungünstigen.
Warnzeichen, die Angehörige beachten sollten (Schwerpunkt Anorexie):
Eine Essstörung ist eine Erkrankung und keine „Phase“. Professionelle Hilfe sollte immer in Anspruch genommen werden, innerhalb der Familie oder der Partnerschaft kann alleine durch Appelle oder Gutes Zureden keine Veränderung des Verhalten herbeigeführt werden. Oft sind Beziehungen auch Teil des Problems.
Nächste Woche soll es in Teil 2 des Artikels darum gehen, wie die Hilfe für Betroffene aussehen kann.
Informationen dazu, wie man erste Anzeichen für eine Essstörung erkennen kann, findet ihr auch hier. Eine gesammelte Liste an Anlaufstellen für Betroffene oder Angehörige, gibt es hier.
Bildquelle: Andrew Coop, unsplash