Ein Neuro-Implantat ermöglicht es Querschnittsgelähmten mithilfe von Elektrostimulation, kurze Strecken selbstständig zu laufen. Das berichten Forscher in Nature Medicine. Ist das ein medizinischer Durchbruch?
Querschnittslähmungen führen trotz aller Fortschritte der Medizin immer noch zu dauerhaften Behinderungen. Eine Heilung ist zwar bislang nicht möglich, die rasante technische Entwicklung auf dem Gebiet der letzten Jahre ist dennoch beeindruckend. Bereits im Jahr 2018 sorgte eine Veröffentlichung von Lausanner Forschern für Aufsehen: Ihr Neuro-Implantat ermöglichte inkomplett Querschnittsgelähmten das Stehen und Gehen kurzer Distanzen. Die Probanden konnten ihre Beine vor der Therapie nicht bewegen, hatten aber noch Empfindungen darin.
Jetzt hat das Forscherteam ihr Implantat weiterentwickelt und gezeigt, dass ihre Technik auch bei Probanden mit vollständiger Querschnittslähmung funktioniert. Die Forscher implantierten den drei Probanden – zwei mit kompletter und einer mit inkompletter Querschnittlähmung – einen elektrischen Pulsgeber, ein Kabelbündel und das neu entwickelte Elektrodenarray. Das Array besteht aus einer knapp 7 cm langen und 1,5 cm breiten Folie, auf der 16 kleine Elektroden angeordnet sind. Diese werden so in der Wirbelsäule platziert, dass die Elektroden über die Nervenfasern Motor-Neuronen im Rückenmark stimulieren und so Muskeln im Bein und im Rumpf gezielt aktivieren.
Das Array ist an die individuelle Anatomie des jeweiligen Probanden angepasst und auch die elektrischen Impulse werden individuell eingestellt. Je nach Phase der Gehbewegung wird eine bestimmte Konfigurationen dieser 16 Elektroden aktiviert. Die Probanden können die Bewegungen allerdings nicht willkürlich hervorrufen, sondern müssen sie über ein Tablet ansteuern.
Bereits wenige Stunden nach dem Beginn der Therapie hätten die drei Patienten laut der Forscher wieder erste Muskelbewegungen hervorrufen können. Nach mehreren Monaten Training seien die Testpersonen wieder in der Lage gewesen, mit Gehhilfen stundenweise zu stehen und zu gehen.
„Die Arbeit hat nochmals relevante neue Erkenntnisse zur optimierten epiduralen Stimulation zu Tage gefördert, die eine raschere und effektivere Stimulation des Rückenmarks ermöglichen kann“, erklärt Prof. Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Die Alltagstauglichkeit sei aber nach wie vor äußerst limitiert – die Probanden hätten eine geringe Gehgeschwindigkeit und ein unphysiologisches Gangbild mit relativ hohem Energieaufwand, so Weidner. „Insofern unterscheidet sich die aktuelle Studie auch nicht von der 2018 veröffentlichten Arbeit. Es wurden aber neue Grundlagenerkenntnisse betreffend die Anatomie und Funktionsweise des Rückenmarks gewonnen, die für Weiterentwicklungen vergleichbarer Therapieverfahren wichtig sind.“
Einige Experte warnen vor frühzeitiger Euphorie. Prof. Winfried Mayr vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik an der Medizinischen Universität Wien erklärt: „Trotz der präsentierten positiven Fallbeispiele muss betont werden, dass sich leider keine baldige Lösung für alle von Querschnittlähmung Betroffenen abzeichnet.“ Die drei Personen hätten mit Sicherheit besonders günstige Voraussetzungen, die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle fehlen, so Mayr weiter. „Ein Durchbruch in Richtung einer universellen Gesamtlösung bleibt bis auf weiteres unrealistisch und sollte auch nicht leichtfertig versprochen werden.“
Dr. Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte am Klinikum Bayreuth, ergänzt: „Wir sind uns in vielen Fachgremien mittlerweile einig, dass es nicht die ‚eine‘ Pille oder die ‚eine‘ Methode zur Behandlung von Querschnittlähmungen geben wird. Dafür ist das gestörte System des Nervensystems viel zu komplex.“ Die Ergebnisse seien aber sehr ermutigend und würden sicher ihren Platz in der Therapie finden.
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