Nach einem Jahr liefert eine kontroverse Studie zu COVID-19 nun Ergebnisse: Bei Freiwilligen, die gezielt mit dem Coronavirus infiziert wurden, konnte eine kürzere Inkubationsphase festgestellt werden als zuvor angenommen.
In der Regel entwickeln junge, gesunde Menschen lediglich milde Symptome, wenn sie sich mit SARS-CoV-2 infizieren. In einer umstrittenen Studie des Imperial College in London, Großbritannien, haben Forscher deshalb 34 Freiwillige im Alter von 18 bis 30 Jahren dem Virus ausgesetzt, unabhängig vom Impf- oder Genesenenstatus. Sie bezweckten damit, eine Wissenslücke zum Verständnis von COVID-19 zu füllen: Wie lange dauert es vom ersten Kontakt mit dem Virus bis zum Einsetzen von Symptomen. Das konnten Forscher selbst in umfangreichen Studien bislang nicht klären, da der eindeutige Zeitpunkt zur infektiösen Virusexposition meist unbekannt blieb.
Kontakt mit dem Virus bedeutet nicht gleich Infektion: Lediglich 18 Personen bzw. 53 Prozent der Probanden steckten sich tatsächlich an. Dabei reichte eine minimale Dosis SARS-CoV-2 von 10 TCID50 schon aus – TCID steht für Tissue Culture Infectious Dose und beschreibt die mediane Virusmenge, mit der sich unter Laborbedingungen Zellkulturen infizieren lassen. Diese Menge könnte auch in einem Tröpfchen enthalten sein.
Die infizierten Probanden wiesen lediglich milde bis moderate Symptome (89 %) bis keine Symptome auf. Dabei replizierte sich SARS-CoV-2 aber stark in den Infizierten mit einer steigenden Viruslast und einem Höhepunkt an Tag 6, nach erfolgter Virus-Exposition. Die hohen Viruslasten hielten durchschnittlich 9 Tage und bis zu 12 Tage an. Im Mittel entwickelten die Probanden die ersten Symptome in weniger als zwei Tagen nach Exposition. Auch der PCR-Test war in der Regel zu diesem Zeitpunkt positiv. Diese Daten widersprechen den meisten epidemiologischen Real-World-Studien zu COVID-19, in denen eine durchschnittliche Inkubationszeit von etwa fünf Tagen festgestellt wurde zwischen Virsuexposition und ersten Symptomen.
Zwar beziehen sich die Ergebnisse weder auf Delta noch auf Omikron, denn infiziert wurde mit dem Wildtyp (D614G). Allerdings bleiben sie relevant für die verbreitete Übertragung dieser Varianten, erklären die Forscher: „Darüber hinaus zeigen unsere Daten deutlich, dass die Virusausscheidung von SARS-CoV-2 unabhängig von der Schwere der Symptome in hohem Maße auftritt, was die hohe Übertragbarkeit dieser Infektion erklärt.“ Die Schwere der Symptome könne nicht als Ersatz für das Übertragungsrisiko bei dieser Krankheit angesehen werden, so die Forscher weiter.
Die Ergebnisse des Preprints sind einzigartig, denn die Herangehensweise der britischen Studie gilt weltweit als erste dieser Art, die im Zusammenhang mit COVID-19 erstellt wurde. „Es stellt einen potenziell wichtigen Fortschritt bei der Bewertung der zukünftigen Wirksamkeit von Impfstoffen und Medikamenten dar“, sagt Prof. Miles Davenport, Immunologe an der University of New South Wales in Sydney, Australien. „Dies eröffnet eine Reihe wichtiger Möglichkeiten, die Immunität in einer kontrollierten Umgebung zu untersuchen.“ Sie zeige, dass eine solche Studie auch kontrolliert und sicher durchgeführt werden könne.
Einige Forscher bezweifeln jedoch, ob die bisherigen Erkenntnisse der Studie wichtig genug sind, um die Risiken für die Teilnehmer zu rechtfertigen, beispielsweise das Potenzial für langfristige Nebenwirkungen. Viele Probanden waren bis zu 90 Tagen von Anosmie bzw. Dysosmie betroffen, diese langanhaltenden Symptome besserten sich jedoch wieder ohne Behandlung. Bei einem Teilnehmer hielten die Geruchstörungen auch nach 180 Tagen noch an, schienen sich laut den Medizinern jedoch wieder zu verbessern.
„Meiner Meinung nach ist immer noch nicht ganz klar, ob diese Studien ethisch gerechtfertigt sind, und ich warte ab, was sie sonst noch herausgefunden haben“, sagt Seema Shah, Bioethikerin an der Northwestern University in Chicago, USA.
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