Lässt sich eine Azidose allein über den pH-Wert des Urins nachweisen? Und hilft es, bei Übersäuerung auf Brot oder Zitronen zu verzichten? Die größten Mythen zum Säure-Basen-Haushalt im Faktencheck.
Eine latente Azidose ist eine Disbalance des Säuren-Basen-Haushaltes im gesamten Körper. Außerdem kann eine Übersäuerung isoliert im Magen auftreten. Dies kann unter anderem durch Stress, Medikamente oder andere Faktoren geschehen. Auch der Urin kann durch Medikamente, Nahrungsmittel oder Erkrankungen sauer oder basisch reagieren. Dies sagt jedoch nichts über den pH-Wert im Gewebe, des Serums, des Blutes und der Organe aus.
Wenn bereits die Namensgebung über eine Störung der Körperfunktionen wie der Übersäuerung nicht eindeutig definiert ist, sind unkorrekte „Fakten“ programmiert. Eine Übersäuerung im Magen zieht Sodbrennen nach sich, eine chronische und latente Azidose verläuft schleichend und ohne typische Beschwerden.
In der Medizin ist es nicht ungewöhnlich, dass unterschiedliche Meinungen existieren. Die Inhalte dieser Website basieren weniger auf empirischen Meinungen der Erfahrungsheilkunde, sondern mehr auf evidenzbasierten medizinischen Studien. In der Erfahrungsheilkunde werden „Meinungen“ verbreitet, auf die sich die Bevölkerung oder Mediziner seit langer Zeit stützen. Das muss nicht falsch sein, grenzt sich aber von der evizenzbasierten Medizin ab. Darunter versteht man medizinische Fakten, zu denen es zahlreiche, geprüfte Studien unter Berücksichtigung von naturwissenschaftlichen Daten gibt.
Aber die „Erkenntnisse“ der Erfahrungsheilkunde halten sich oft länger und sind populärer als medizinische Fakten. Beispielsweise ist vielfach immer noch zu lesen, dass Muskelkater die Folge einer Ansammlung von Milchsäure ist. Das hat man früher auch geglaubt. Neuere Studien zeigen jedoch, das Mikrofaserrisse die eigentliche Ursache sind und ein Überschuss an Milchsäure zwar eine wichtige Rolle im Sport spielt, aber eben nicht der Übeltäter für Muskelkater ist. Über die chronisch latente Azidose sind ebenso zahlreiche Irrtümer im Umlauf. Um sich vor diesen zu wappnen, liste ich an dieser Stelle die häufigsten auf:
Nein, das ist nicht so. Durch geänderte Ernährungsgewohnheiten kann der pH-Wert leicht absinken, aber dabei liegt eher eine Erschöpfung der Basenspeicher vor. Primär kritisch ist eine Übersäuerung in den Zellen.
Mit chronischer Azidose ist nicht die Übersäuerung des Magens gemeint, das ist eine Hyperazidität. Der pH-Wert im Magen ist sauer und das ist gut so. Lediglich wenn die Schleimhaut angegriffen ist, schmerzt die Säure im Magen.
Eine Azidose hat nichts mit einem Überschuss an Milchsäuren im Muskel, beispielsweise nach sportlicher Aktivität, zu tun. Ein Muskelkater ist vielmehr die Folge von Mikrorissen der Muskulatur. Dennoch kann die Muskulatur durch eine Anhäufung von Laktat rascher ermüden.
Dort kann man nur den Urin-pH-Wert messen, nicht aber den pH-Wert des Blutes, des Plasmas oder des Gewebes.
Der pH-Wert eines Lebensmittels sagt nichts über die Wirkung auf die Säuren-Basen-Balance im Körper aus. Citrate, die Salze der Zitronensäure, wirken einer latenten Azidose wirksam entgegen.
Orale Zubereitungen mit Bicarbonat, die sich schon im Magen auflösen, wirken nicht auf den pH-Wert des Blutes. (Anm. der Redaktion: Das Bicarbonat kann zwar die Magensäure zu einem gewissen Grad neutralisieren, dabei wird es allerdings verbraucht und gelangt nicht weiter in den Blutkreislauf.) Der Magen bildet sogar mehr Säure als vorher.
Cola hat zwar einen sauren pH-Wert, doch dieser ändert sich rasch, wenn die Kohlensäure sich verflüchtigt. (Anm. der Redaktion: Der pH-Wert beruht maßgeblich auf der hohen Konzentration an Kohlensäure. Diese verflüchtigt sich an der Luft, bzw. im Magen, durch den Zerfall in Wasser und Kohlenstoffdioxid) Die verbleibende Phosphorsäure ändert den Körper-pH-Wert auch nicht maßgeblich, bildet aber unlösliche Calciumverbindungen, die dem Körper dann fehlen. Nicht gut für die Knochen.
Das Gegenteil ist der Fall! Bei einer raschen und drastischen Diät sammelt der Körper saure Stoffwechselprodukte, es kommt zu einer Azidose.
Nein, nur Natrium in Verbindung mit einem Chloridion kann den Blutdruck unter bestimmten Voraussetzungen steigern.
Apfel- oder Zitronensaft haben zwar einen sauren pH-Wert, werden im Körper aber in basische Salze metabolisiert. (Anm. der Redaktion: Das bedeutet, die Säuren werden in ihre korrespondierenden Basen umgewandelt.)
Um die Entmystifizierung solcher Mythen mit Fakten zu belegen, hilft ein Blick in die wissenschaftliche Literatur.
Genau in diesem Punkt herrscht in der Literatur und unter Experten keine Einigkeit. In der Diagnose der chronisch latenten Azidose gibt es verschiedene Messmethoden.
Eine typische Messung ist jene, bei der der pH-Wert im Urin gemessen wird. Ein pH-Messstreifen gibt dabei rasch Auskunft darüber, ob der Urin basisch oder sauer ist. Ein Rückschluss auf den Säurewert des Blutes und ob ein Patient übersäuert ist, ist damit jedoch nicht möglich. Jede Messung ist nur eine Momentaufnahme: Es wird lediglich ermittelt, wie viel saure Substanzen über den Harn beim letzten Wasserlassen ausgeschieden wurden. Am Morgen, nach mehreren Stunden ohne Nahrungsaufnahme, liegt der pH-Wert meist bei rund 5 bis 6, also leicht sauer. Es lässt sich auch beweisen, dass vegetarische Ernährung tendenziell zu basischen, Fleischverzehr zu sauren pH-Werten führt. Ob der Körper jedoch (noch) über ausreichend Pufferkapazitäten verfügt oder diese bereits aufgebraucht sind, kann der Test nicht beantworten.
Dass Getreide zu einer Azidose führt, ist hingegen ein verbreiteter Irrtum: Isst ein Patient viel Getreide, wird sein Urin sauer, heißt es oft. Dies führte vermutlich zum Ratschlag in vielen Büchern, Artikeln und Tabellen, den Getreideverzehr einzuschränken. Bei dieser These haben sich jedoch gleich zwei Denkfehler eingeschlichen. Erstens verändert nicht Getreide, sondern das darin enthaltene Kalium den pH-Wert und zweitens wird nur der Urin sauer; das Gewebe, auf das es ankommt, bleibt hingegen basisch. Kalium konkurriert in der Zelle mit Wasserstoffionen und schleust sie hinaus. Somit wird der pH-Wert in der Zelle basischer. Die Wasserstoffionen befinden sich nun ausserhalb der Zelle und werden bei der Urin-pH-Messung erfasst und falsch positiv gewertet.
Pauschal kann nicht gesagt werden, dass eine pH-Wertmessung im Urin zu ungenau ist. Dies gilt für das simple Messverfahren, bei dem ein Urinteststreifen einmalig in den Urin eingetaucht und der Wert abgelesen wird. Viel genauer ist die aufwendige Urinmessmethode nach Sander. Dabei werden pH-Werte von 5 Urinproben tagsüber gemessen und es werden gebundene saure bzw. basische Anteile im Urin erfasst. Aus diesen Daten kann der mittlere Säurequotient errechnet werden. Dieser ist eine Messzahl für die Säurebelastung des Körpers.
Bei einer Messung der Glukose im Urin kann übrigens auch nur sehr unzuverlässig der Glukosegehalt bestimmt werden. Er ist unter anderem abhängig von der Nierenschwelle. Außerdem lässt sich nur eine Hyper-, nie eine Hypoglykämie nachweisen.
Eine latente Azidose ist ein bedeutsamer Cofaktor bei Nierenerkrankungen. An chronischer Niereninsuffizienz leiden immer mehr Patienten und der Anteil unter ihnen mit Diabetes mellitus steigt. Mit nachlassender Nierenfunktion wächst das Risiko für chronische metabolische Azidose. Bei chronischer Niereninsuffizienz wird sie mit Natriumbicarbonat behandelt. Bisher war unklar, ob das Medikament auch die Insulinresistenz senkt.
Bellasi und Kollegen haben in einer multizentrischen, randomisiert-kontrollierten Studie untersucht, wie sich eine 12-monatige Therapie der chronischen metabolischen Azidose mit oral verabreichtem Bicarbonat auf die Insulinresistenz auswirkt. Um den Glukose-Stoffwechsel zu untersuchen, wurden Serum-Glukose, HbA1c und Serum-Insulin bestimmt. Aus dem Glukosespiegel und dem Insulinspiegel wurden der HOMA-IR (Homeostasis Model Assessment) und der HOMA-%B-Wert errechnet. Der HOMA-IR-Index gibt Anhaltspunkte zur Beurteilung einer Insulinresistenz. Normale Werte liegen unter 2,5. Ab 5,0 besteht eine Insulinresistenz. Der HOMA-%B-Index ist ein Maß für die Pankreas-Beta-Zellfunktion und kann Werte von 0 bis 100 % annehmen.
Am Ende der Studie zeigten sich Unterschiede im Diabetes-Management und bei den HOMA-IR-Werten zwischen beiden Gruppen: In der Interventionsgruppe war der Bedarf an antidiabetischer Medikation (Sulfonylharnstoffe und Biguanide) nach einem Jahr geringer als in der Kontrollgruppe. Zu Beginn der Studie war er in beiden Gruppen gleich gewesen. Beide HOMA-Werte verbesserten sich in der Interventionsgruppe signifikant.
Neben Niere und Lunge spielt auch die Leber eine wichtige Rolle bei der Regulation des Säure-Basen-Gleichgewichts (ABE). Die Beteiligung der Leber an der Regulation des ABE ist aufgrund ihrer Rolle im Milchsäurestoffwechsel, der Harnstoffproduktion und der Proteinhomöostase von entscheidender Bedeutung.
Durch die Niereninsuffizienz kann der Blutdruck steigen, deshalb stellt sich die Frage, ob Natriumsalze die bessere Alternative sind. In einer tierexperimentellen Studie von Gadola et al. wurden eine Ödembildung und ein erhöhter Verbrauch an blutdrucksenkenden Medikamenten beobachtet. Aus dieser Sicht wären Natriumsalze für die Azidosetherapie bei Niereninsuffizienten und Bluthochdruck-Patienten auch wegen einer möglichen Ödembildung nicht sinnvoll. Die Ergebnisse der Studie lassen sich jedoch in der Praxis nicht auf den Menschen übertragen. Dies wurde in einer Humanstudie von De Bristo Ashurt dokumentiert.
Die Patienten erhielten 3 x 600 mg Natriumbicarbonat pro Tag, um das Serumbicarbonat auf über 25 mmol/l anzuheben. An der Studie nahmen 134 Patienten mit chronischem Nierenversagen teil. Nach dem 2-jährigen Beobachtungszeitraum war die Verschlechterung in der Kontrollgruppe dreimal so hoch. 45 Prozent gegenüber 9 Prozent der Patienten hatten eine rasche Verschlechterung und bei 33 Prozent gegenüber 6 Prozent der Patienten kam es zum Nierenversagen. Die Verschlimmerung des Bluthochdrucks und die Steigerung des Medikamentenverbrauchs war in beiden Gruppen identisch.
Die KDIGO-Leitlinien 2012 (Kidney Disease Improving Global Outcomes) nehmen auf diese Studie Bezug und geben für Natriumbicarbonat hinsichtlich einer Blutdrucksteigerung, Ödembildung und einem Medikamentenmehrverbrauch Entwarnung.
In einer Studie von Kotchen et al. wird darauf hingewiesen, dass nur die Kombination aus Natrium und Chlorid einen Einfluss auf bestimmte Blutdruckerkrankungen hat. Nicht das Ion Natrium ist für eine Wassereinlagerung und eine Drucksteigerung verantwortlich, sondern die Kombination mit dem Chloridion, also als Natriumchlorid. Eine Studie von Luft et al. mit jeweils zehn Patienten mit und ohne Hypertonie fand gar einen blutdrucksenkenden Effekt von Natriumbicarbonat.
Normalerweise gilt in der Medizin der Grundsatz: Erst Diagnose, dann Therapie. Vor einer Azidosetherapie müsste demnach eine latente Übersäuerung nachgewiesen werden. Da das in der Praxis kaum möglich ist, verlässt man sich auf bekannte und anerkannte Grundlagen der Erkrankungslehre. Man weiß, dass einige Ekrankungen „saure Erkrankungen“ sind, beispielsweise die Gicht mit erhöhter Harnsäure. Ebenso ist bekannt, dass eine Störung der puffernden Organe wie Lunge und Niere zu einer Azidose führen können.
Grundsätzlich sollten wir aber die Faktenlage auf dem Schirm behalten und uns nicht von sauren Mythen hinters Licht führen lassen.
Anmerkung: Die Redaktion hat einige Stellen im Text nachträglich präzisiert.
Bildquelle: Jeremy Bezanger, Unsplash