Die Zusammenfassung des pathologischen Ablaufs der Multiplen Sklerose vom Früh- bis zum Spätstadium zeigt, dass entzündliche und neurodegenerative Prozesse gleichzeitig eine Rolle spielen. Das könnte neue Therapieoptionen ermöglichen.
Bisher gab es zwei Ansätze für die Kategorisierung der Multiplen Sklerose: Der erste betrachtet die MS als eine in allen Stadien entzündliche Erkrankung des Nervensystems, wobei die Entzündung auch für die folgenden neurodegenerativen Schädigungen verantwortlich ist. Der zweite Ansatz postuliert, dass die Erkrankung von einer entzündlichen schließlich in eine neurodegenerative übergeht. Im einem Paper zeigt ein Forscherteam unter der Leitung von Hans Lassmann, Leiter der Abteilung für Neuroimmunologie der MedUni Wien, aber erstmals, dass die Multiple Sklerose aus beiden Faktoren besteht – und zwar dass der Entzündungsprozess von Anfang an und bis zum Ende als „treibende Kraft“ fungiert und dass in der sogenannten progredienten, späteren Phase neurodegenerative Prozesse dazukommen, die das Gehirn schädigen. Lassmann: „Der Entzündungsprozess, der sich im Frühstadium gut behandeln lässt, wird mit dem Alter aber immer weniger, dafür nehmen die neurodegenerativen Schädigungen zu. Das erklärt auch, warum die Medikamente, die zunächst gut wirken, später ihre Wirkung verlieren.“ Im späteren Stadium der Erkrankung werden „Amplifikationsmechanismen“ in Gang gesetzt: Die Schädigungen werden dabei vervielfacht – und zwar als Kreislauf „in sich selbst“, der immer weiter geht. Durch die neurodegenerativen Schäden im Gehirn werden Mikrogliazellen aktiviert, die ebenso die Erkrankung vorantreiben wie die Bildung von Sauerstoffradikalen, die Lipide und Proteine im Gehirn zerstören. Gleichzeitig kommt es zur Schädigung von Mitochondrien. Dadurch – und durch die normale Gehirnalterung und die damit verbundene Eisenablagerung – kommt es ebenfalls zu weiteren Schädigungen.
Auf den neuen Erkenntnissen aller dieser Mechanismen könnten nun neue Therapieansätze fußen, so die Forscher. „Dabei gibt es zwei Wege“, so Lassmann, „zum einen, dass man Pharmaka entwickelt, die eine anti-entzündliche Wirkung auch im Gehirn entfalten und nicht nur die Abwehrreaktion im Blut und in lymphatischen Organen dämpfen, zum anderen, dass man neuroprotektive Therapien entwickelt, die die Amplifikationsmechanismen und die Schädigung der Mitochondrien präventiv blockieren und dadurch die Folgeschäden verhindern.“ Auf Basis der Daten laufen bereits klinische Studien mit einigen potenziell einsetzbaren Medikamenten, Ergebnisse werde es aber in frühestens fünf Jahren geben, erklärt Lassmann: „Ich rechne aber fest damit, dass es in absehbarer Zeit, also in den nächsten fünf bis zehn Jahren, erfolgreich gelingen wird, etwas gegen die Amplifikationsmechanismen zu tun und damit die progrediente Phase weiter zu verzögern.“ Diesen Amplifikationskreislauf im Gehirn gibt es auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson, aber auch bei normaler Gehirnalterung. Daher könnten auch hier diese neuen Therapien aus der MS-Forschung hilfreich werden. Originalpublikation: Pathological mechanisms in progressive multiple sclerosis Hans Lassmann et al.; Lancet Neurol.; 2015