Die tiefe Hirnstimulation kann Symptome bei Patienten mit Epilepsie oder chronischen Schmerzen lindern. Eine App ermöglicht es Ärzten jetzt, das Gerät auch aus der Ferne zu steuern. Ist das eine gute Idee?
Die tiefe Hirnstimulation (THS), umgangssprachlich auch als „Hirnschrittmacher“ bezeichnet, ist eine Behandlungsmethode bei Bewegungsstörungen und anderen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Sie kommt meist bei Patienten mit schwerer, therapieresistenter Symptomatik zur Anwendung. Dabei werden in einer minimalinvasiven Operation feine, hochpräzise Elektroden in ein genau definiertes Gebiet des Gehirns eingesetzt. Durch eine kontinuierliche elektrische Stimulation kann die Symptomatik oft deutlich und anhaltend verbessert werden – und damit auch die Lebensqualität der Patienten. Erstmals eingesetzt in den 1980er Jahren, ist die THS inzwischen in Kliniken fest etabliert. Sie gilt mit einer Komplikationsrate von ein bis drei Prozent als risikoarm.
Seit Anfang Oktober 2021 ist nun in Deutschland ein System zugelassen, mit dem die Hirnimplantate vom betreuenden Arzt mithilfe einer App auch aus der Ferne überprüft und eingestellt werden können. Mit der „Neurosphere Virtual Clinic“ der Firma Abbott, einem der drei etablierten Hersteller von THS-Systemen, kann der Arzt in Echtzeit Einstellungen vornehmen, um beispielsweise Tremor oder Muskelsteifigkeit optimal zu beeinflussen. Dabei stehen Arzt und Patient per Videochat in Kontakt. Darüber hinaus kann der Patient selbst in begrenztem Umfang Einstellungen verändern. Bisher ist die App nur für Apple-Geräte wie iPad oder iPhone verfügbar, in Zukunft soll sie aber auch für andere Betriebssysteme bereitgestellt werden.
Als eine der ersten Kliniken in Deutschland setzt die Paracelsus Klinik Zwickau die App seit Ende Oktober 2021 bei ihren Patienten ein. „Aus unserer Sicht ermöglicht sie den Patienten deutlich mehr Unabhängigkeit und Sicherheit“, sagt François Alesch, Leiter des Departments Neuromodulation an der Abteilung Neurochirurgie der Klinik. „Während Patienten früher immer wieder für Einstellungen des Hirnstimulators in die Klinik kommen mussten, können sie sich nun bei Problemen und Fragen jederzeit und von überall direkt an ihren Arzt wenden. Das kann für die Betroffenen sehr beruhigend sein – etwa, wenn sie das Gefühl haben, eine Einstellung ist nicht optimal oder wenn sie sich, etwa nach einem Sturz fragen: Funktioniert alles noch ordnungsgemäß?“ Alle Patienten, die ein Hirnimplantat erhalten, bekommen dazu bereits einen iPod zur Verfügung gestellt.
Vorangetrieben wurde die neue Technologie auch durch die Corona-Pandemie, in der Ärzte und Patienten nach Möglichkeiten suchten, die Hirnimplantate ohne direkten Kontakt zu überprüfen und einzustellen. „Die neue App hat auch den Vorteil, dass Anfahrtszeiten in die Klinik wegfallen und dass ein Patient auch zu ungewöhnlichen Zeiten, etwa abends, Kontakt aufnehmen kann“, erläutert Alesch, der auch als Universitätsdozent und Neurochirurg in Wien tätig ist. „Das kann auch für die Angehörigen entlastend sein. Denn viele Patienten sind schon relativ alt, so dass die Überwachung des Hirnstimulators von Angehörigen übernommen wird.“
Doch birgt ein solches System, bei dem per „Fernsteuerung“ auf Prozesse im Gehirn zugegriffen wird, nicht auch Probleme oder Gefahren? So könnte es sein, dass jemand die Anwendung hackt oder der Patient falsche Einstellungen wählt. Und was passiert, wenn die Verbindung unterbrochen wird, während der Arzt gerade eine Einstellung ändert? „Aus meiner Sicht sind die Risiken der Anwendung sehr gering“, sagt Alesch. „Erstens handelt es sich bei der ‚virtuellen Klinik‘ um ein vom TÜV geprüftes und zugelassenes System, bei dem der Kontakt zwischen Arzt und Patient über eine sichere Verbindung stattfindet.“ Die Cybersicherheit sei also gewährleistet. „Ein Hacken des Systems kann natürlich nicht zu hundert Prozent ausgeschlossen werden“, so der Neurochirurg. „Aber das ist aus meiner Sicht sehr unwahrscheinlich.“
Auch falls die Verbindung unerwartet unterbrochen werde, bestehe keine Gefahr. „Das Gerät speichert permanent, so dass entweder die letzte Einstellungsänderung gespeichert wird oder das Gerät zur vorherigen Einstellung zurückspringt“, erläutert Alesch. „Daran kann der Arzt – sobald die Verbindung wieder hergestellt ist – problemlos neu ansetzen.“
Über eine eigene Patienten-App können die Patienten auch selbst Veränderungen vornehmen – allerdings nur in begrenztem Umfang: So können sie die elektrischen Impulse auf den einzelnen Kontakten bis zu einer gewissen Grenze erhöhen oder reduzieren. „Daher ist auch das Risiko, dass ein Patient etwas ‚falsch‘ macht, sehr gering“, so Alesch. Sobald es die Corona-Lage zulässt, wollen die Ärzte an der Paracelsus Klinik außerdem ein Patientenseminar veranstalten, in dem die App Patienten und ihren Angehörigen vorgestellt und im Detail besprochen wird. Jedem Patienten stehe es natürlich frei, ob er die Anwendung nutzen wolle oder nicht – etwa, weil er Bedenken habe oder weil ihm das Ganze zu technisch sei.
Derzeit nutzen bereits 10 Patienten der Zwickauer Klinik die „Virtual Clinic“-App, und auch in anderen Kliniken und Zentren in Deutschland wird sie bereits eingesetzt. „Allerdings kann die neue Technik regelmäßige Besuche in der Klinik nicht vollständig ersetzen“, betont Alesch. „Denn der direkte Kontakt mit dem Patienten ist und bleibt wichtig.“
Um die Wirksamkeit für die Nutzer auch wissenschaftlich zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern, ist derzeit eine Studie an der Neurochirurgischen Klinik des Münchner Universitätsklinikums Großhadern in Planung, an der sich auch die Paracelsus Klinik Zwickau beteiligt. In der prospektiven Untersuchung soll bei Patienten, die einen Hirn-Stimulator neu erhalten, überprüft werden, wie gut Ärzte die Einstellungen per Fernsteuerung regulieren können.
In der EU ist die tiefe Hirnstimulation zugelassen für die Behandlung der Parkinson-Erkrankung, essentiellem Tremor, Dystonien, Zwangserkrankungen und Epilepsien. Weitere mögliche Einsatzbereiche sind Schmerzsyndrome und chronische, therapieresistente Depressionen. „Eine THS kommt vor allem dann in Frage, wenn eine medikamentöse Behandlung keine Besserung bringt, mit der Zeit an Wirksamkeit verliert oder mit deutlichen Nebenwirkungen verbunden ist“, erläutert Alesch. Dabei sollten Nutzen und Risiken bei jedem Patienten kritisch abgewogen und die Entscheidung gemeinsam mit dem Patienten getroffen werden. Ein Vorteil des Verfahrens ist, dass es vollständig reversibel ist: So kann der Hirnschrittmacher jederzeit abgeschaltet und die Elektroden auch wieder aus dem Gehirn entfernt werden.
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