Patienten mit Phenylketonurie müssen sich ihr Leben lang mit einem begrenzten Speiseplan begnügen – der dazu auch noch unausgewogen ist und Adipositas begünstigt. Ein neues Orphan Drug könnte der ewigen Diät ein Ende setzen.
Teil 13 unserer Serie über seltene Krankheiten und ihre Behandlung. Hier geht's zu Teil 12.
Weder Fleisch, Fisch, Käse, Nudeln noch Reis – die Diät bei Phenylketonurie (PKU) lässt den Speiseplan schrumpfen. Etwa 1 von 8.000 Kindern in Europa wird mit dieser Eiweißstoffwechselstörung geboren. Neue Therapien könnten den lebenslangen Verzicht auf viele Lebensmittel nun obsolet machen.
Weltweit gibt es Unterschiede in der PKU-Prävalenz. In Europa liegt sie bei 1:10.000; in einigen Ländern wie Deutschland, Estland, Irland, Spanien und Schottland höher. Aufgrund der hohen Blutsverwandtschaft innerhalb der Bevölkerung wird in der Türkei bei 2.600 Geburten ein Neugeborenes mit PKU entdeckt. Auf der anderen Seite hat Finnland mit 1:100.000 Fällen die niedrigste Prävalenz.
Die PKU ist eine seltene autosomal-rezessive Stoffwechselstörung, die durch einen Mangel an Aktivität des hepatischen Enzyms Phenylalaninhydroxylase (PAH) verursacht wird. Ursache sind Mutationen im PAH-Gen. Der Enzymmangel führt zu toxischer Anhäufung von Phenylalanin (Phe) im Blut und Gehirn. Gleichzeitig wird weniger Tyrosin gebildet, das dadurch zur essentiellen Aminosäure wird. Das überschüssige Phenylalanin wird durch Aktivierung alternativer Stoffwechselwege zu den phenolischen Säuren Phenylpyruvat, Phenylacetat und Phenyllaktat abgebaut. Diese Produkte kommen bei Stoffwechselgesunden nicht in nennenswerten Mengen vor – und ihre Ausscheidung hat der Erkrankung ihren Namen gegeben.
Die Erstbeschreibung des Krankheitsbildes erfolgte 1934 durch den norwegischen Arzt Asbjörn Fölling. Er wies bei Patienten mit geistiger Behinderung die Ausscheidung von Phenylbrenztraubensäure im Urin nach. Ohne Behandlung führt dies zu erhöhten Phenylalanin-Konzentrationen im Blut und im Gehirn. Die Folgen sind neurokognitive und neuropsychologische Komplikationen. US-amerikanische und europäische Leitlinien empfehlen eine lebenslange Behandlung und Nachsorge.
Man unterscheidet primäre, genetisch bedingte Hyperphenylalaninämien und sekundäre, erworbene Hyperphenylalaninämien. Es handelt sich um eine irreversible Schädigung von Hirnstrukturen, die zur mentalen Retardierung der Betroffenen führt. Das während der frühkindlichen Entwicklung rasch wachsende Zentralnervensystem ist besonders gefährdet. Außerdem spielen bei hoher Phenylalaninkonzentration reversible toxische Effekte eine Rolle, die neuropsychologische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten auslösen.
Die Erhöhung von Phenylalanin im Blut hemmt kompetitiv den Einstrom anderer Aminosäuren in das Gehirn, wodurch es zu einer Störung der intrazerebralen Proteinsynthese und der Myelinisierung von Nervenfasern kommt. Außerdem führt die Kompetition von Phenylalanin mit Tyrosin und Tryptophan an der Blut- Hirn-Schranke zu einer verminderten Synthese der Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin.
Bei Neugeborenen mit PKU sind keine Funktionseinschränkungen des Gehirns erkennbar. Patienten mit unbehandelter klassischer PKU haben vom Kleinkindesalter an häufig blondes Haar, helle Haut und blaue Augen, da die Melaninsynthese aus Tyrosin gestört ist. Sie leiden bei hohen Phenylalaninkonzentrationen häufig an ekzematösen Hautveränderungen. Durch die Ausscheidung von Phenylessigsäure entsteht der vor Einführung des Neugeborenenscreenings nicht selten zur Diagnose führende ,,mäuseurinartige“ Geruch von Körper und Urin.
Eine diätetische Einschränkung, die den Phe-Wert im Blut innerhalb des Behandlungsbereichs hält, kann schwerwiegende Komplikationen verhindern, wenn sie unmittelbar nach der Diagnose eingeleitet wird. Dies geschieht normalerweise kurz nach der Geburt, da eine PKU durch Neugeborenen-Screenings identifiziert wird. Das Ernährungsmanagement ist jedoch eine erhebliche Belastung für Patienten mit PKU, was zu einer fortschreitenden Verschlechterung der Einhaltung der Diät und einem anschließenden Anstieg der Phe-Blutkonzentrationen führt.
Der Zustand ist besonders kritisch für Neugeborene, die mit PKU geboren wurden, da ihre einzige Ernährung proteinhaltige Muttermilch enthält und ein frühzeitiges Eingreifen entscheidend ist, um jede Form von irreversiblen Hirnschäden zu vermeiden. Eine phenylalaninarme Ernährung hat sich als Hauptbehandlung für die Mehrheit der betroffenen Patienten erwiesen, um nicht nur den Phenylalaninspiegel im Blut innerhalb sicherer Grenzen zu halten. Auch soll der Intelligenzquotient bei Kindern und Erwachsenen aufrechterhalten werden.
Es gibt jedoch Probleme nicht nur hinsichtlich der geschmacklichen Toleranz, sondern auch hinsichtlich der Kosten der Produkte, hält eine Studie von Dalei et al. fest. Eine bedarfsdeckende Energiezufuhr kann durch die frei zur Verfügung stehende Auswahl an natürlichen Lebensmitteln (Obst, Gemüse, Zucker, Fette) nicht erreicht werden. Die tägliche Verwendung eiweißarmer Spezialprodukte wie Brot, Nudeln, Reis als Kohlenhydrat- und Energielieferanten ist daher unumgänglich. Hier steht inzwischen eine große Auswahl an verschiedenen Produkten zur Verfügung. Allerdings: „Die Mehrbelastung der behandelnden Kliniken/Ambulanzen und der betroffenen Familien wird nicht ausreichend durch das Gesundheitssystem aufgefangen“, kritisieren die Autoren einer Studie.
Im Rahmen von Diätschulungen erlernen Eltern, aber auch die älteren Kinder selbst, die tägliche Kost anhand eines Ampelmodells zusammenzustellen. Bei dem Ampelmodell werden die Lebensmittelgruppen anhand ihres Proteingehalts in „ungeeignet“ (rot), „begrenzt geeignet“ (gelb) und „geeignet“ (grün) eingeteilt.
Eine PKU-Diät wirkt sich auch auf die Zusammensetzung des Körperfettes und anderer Parameter aus. In einer Studie von Barta et al. betrug der Anteil an Übergewicht 56 % aller Patienten mit PKU. Frauen sind hiervon besonders betroffen. Weibliche Patienten mit PKU hatten im Vergleich zu Kontrollen einen signifikant höheren Körperfettanteil. Parallel zu einem höheren Fettgehalt wurde bei Frauen mit PKU im Vergleich zu Kontrollen ein geringerer Gehalt an Muskelmasse, Protein und Mineralstoffen beobachtet. Weibliche Patienten mit PKU hatten im Vergleich zu Männern eine verminderte Therapietreue und signifikant niedrigere Präalbuminspiegel.
Adipositas ist eine wichtige Komorbidität bei jungen erwachsenen Patienten mit PKU, insbesondere bei Frauen. Die Autoren der o. g. Studie befürworten, dass regelmäßige Bewertungen der Ernährung und des Gewichts zusätzliche Ziele des PKU-Managements sein sollten, um eine optimale Versorgung zu gewährleisten.
Erstmals steht jetzt ein Arzneistoff zur Verfügung, der den Enzymdefekt kompensiert. Die Therapie der PKU hat sich mit der Enzymersatztherapie mit Pegvaliase erweitert. Das Präparat besteht aus einer pegylierten rekombinanten Phenylalanin-Ammoniak-Lyase (PAL), die aus dem Cyanobakterium Anabaena variabilis isoliert wurde und Phe in Ammoniak und trans-Zimtsäure umwandelt. Im Mai 2019 hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) Pegvaliase für die Behandlung von PKU-Patienten im Alter von ≥ 16 Jahren mit Phe > 600 μmol/L im Blut zugelassen. Konsensempfehlungen für den Wirkstoff wurden 2018 entwickelt.
Steckbrief Pegvaliase
Name der Erkrankung
Phenylketonurie (PKU)
Weitere Namen
Fölling-Krankheit
Phenylbrenztraubensäure-Oligophrenie
Oligophrenia phenylpyruvica
Häufigkeit
1 pro 100.000 Geburten
Gestörte Funktion
Geistige Retardierung
Strenger Uringeruch
Melaninmangel
Spastizität
Juveniler Parkinson
Genlokalisation
autosomal-rezessiver Erbgang, Defekt im PAH-Gen
Orphan Drug
Palynzig®
Wirkung
Enzymersatztherapie, pegyliertes Derivat des Enzyms Phenylalanin-Ammoniak-Lyase
Pegvaliase senkt wirksam den Phenylalaninspiegel im Blut und ist mit einem überschaubaren Nebenwirkungsprofil verbunden. Daten aus klinischen Phase-III-Studien zeigten, dass 60,7 % der Patienten in der Lage waren, nach 24 Monaten Phenylalaninspiegel im Blut zu erreichen, die unter den von der Richtlinie empfohlenen 360 µmol/l lagen. Subgruppenanalysen zeigten auch die Verbesserung der Unaufmerksamkeitssymptome in der Verumgruppe im Vergleich zu Placebo.
In zwei Dosisfindungsstudien (Phase II) führte Pegvaliase nicht zu einer wesentlichen Phe-Senkung im Blut. Eine höhere und häufigere Pegvaliase-Dosierung führte zu einem erheblichen anfänglichen Abfall des Phe-Werts im Blut, aber zu einer Zunahme der Anzahl von Überempfindlichkeitsreaktionen und zu Dosisreduktionen oder -unterbrechungen. Mit erhöhter Dosis und Behandlungsdauer in der Studie war die mittlere Phe-Senkung im Blut erheblich und anhaltend und die Häufigkeit von Überempfindlichkeiten nahm ab und stabilisierte sich.
Die aufgetretenen Überempfindlichkeitsreaktionen sind ein Grund, warum etliche Sicherheitsvorkehrungen bei der Gabe der Enzymersatztherapie beachtet werden müssen.
Während der Induktions- und Titrationsphase ist eine Prämedikation vor Anwendung der jeweiligen Dosis erforderlich. Die Patienten erhalten einen H1-Rezeptor-Antagonisten, einen H2-Rezeptor-Antagonisten und ein Antipyretikum. In der Erhaltungsphase kann je nach der Verträglichkeit von Pegvaliase für den Patienten eine Prämedikation für die weiteren Injektionen nochmals erwogen werden. Die ersten Verabreichungen müssen unter ärztlicher Beobachtung erfolgen, wobei der Patient nach jeder Injektion mindestens 60 Minuten lang sorgfältig überwacht werden muss.
Eine Abnahme der Phe-Werte erreichten die Patienten auch, wenn sie im Verlauf mehr eiweißhaltige Lebensmittel zu sich nahmen. Im Mittel verzehrten die Teilnehmer zu Studienbeginn täglich 38,5 g Eiweiß aus natürlichen Quellen. Dieser Wert stieg in Monat 12 um 4 g, in Monat 24 um 14 g und in Monat 36 um 25 g. Eine Beurteilung der Patienten mithilfe zweier validierter Fragebögen ergab, dass sich abhängig vom Phe-Wert auch Symptome wie Unaufmerksamkeit und Verwirrtheit besserten.
Ein weiterer Blick in die Studienlage: In einer placebokontrollierten Phase-III-Studie wurde untersucht, ob es nach dem Absetzen des Medikaments zu einem Wiederanstieg des Phenylalanins kommt. Dies war nach kurzer Zeit der Fall. Die Ergebnisse einer Langzeitstudie ergaben, dass die Phenylalanin-Konzentration bei zwei Dritteln der Teilnehmer auch nach 24 Monaten unter dem Grenzwert lagen. Bei jedem Zweiten wurden sogar Konzentrationen von unter 120 µmol/l erreicht, der oberen Grenze für den Normalwert in der Bevölkerung. Die Ergebnisse des PRISM-Phase-3-Programms belegen die Wirksamkeit von Pegvaliase bei der Behandlung von Erwachsenen mit PKU, wobei das Sicherheitsprofil bei den meisten Teilnehmern überschaubar ist. Die PRISM-2-Erweiterungsstudie wird die langfristigen Auswirkungen der Pegvaliase-Behandlung weiter untersuchen.
Interesse geweckt? Hier geht es zum nächsten Teil der Serie.
Bildquelle: Oktavisual Project, Unsplash