Das Dravet-Syndrom, eine seltene Form von epileptischer Enzephalopathie, ist nicht behandelbar. Jetzt gibt es einige neue Medikamente in der Pipeline.
Teil 14 unserer Serie über seltene Krankheiten und ihre Behandlung. Hier geht's zu Teil 13.
Das Dravet-Syndrom (DS) ist eine schwere, seltene und komplexe entwicklungsbedingte und epileptische Enzephalopathie, die 1 von 16.000 Lebendgeburten betrifft. Sie ist durch arzneimittelresistente Epilepsie, kognitive, psychomotorische und sprachliche Beeinträchtigungen sowie Verhaltensstörungen gekennzeichnet. Allerdings gibt es Hoffnung: Es stehen neue Therapieoptionen für diese seltene Erkrankung zur Verfügung.
Die Epilepsie selbst ist nach Schlaganfällen, Alzheimer und Migräne die vierthäufigste neurologische Erkrankung und betrifft weltweit etwa 65 Millionen Menschen. Etwa 70 % der Patienten erreichen mit Antiepileptika Anfallsfreiheit, während 30 % eine arzneimittelresistente Epilepsie haben.
DS – auch bekannt als schwere myoklonische Epilepsie des Kindesalters – wurde 1978 von Charlotte Dravet beschrieben. Bei Männern tritt sie häufiger auf als bei Frauen (2:1). Viele betroffene Kinder werden mit einer genetischen Mutation des SCN1A-Gens geboren, das den Bauplan für einen Natriumkanal enthält. Die genetische Anomalie des SCN1A-Gens betrifft in der Regel den Subtyp Nav1.1α des Natriumkanals. Dieser befindet sich nahezu ausschließlich in den Nervenzellen des Gehirns.
Obwohl es sich um eine genetische Krankheit handelt, ist DS in den meisten Fällen eine de novo Mutation, die nicht durch die Eltern vererbt wird, sondern spontan beim Kind erstmalig auftritt.
SCN1A-Mutationen wurden bislang bei unterschiedlichen Anfallstypen bzw. Epilepsie-Syndromen beschrieben – insbesondere bei einem Anfallsbeginn in den ersten beiden Lebensjahren. Darunter häufig bei:
DS ist eine Kanalopathie: Eine entwicklungsneurologische epileptische Enzephalopathie, die keine reine Folge von Epilepsie ist, sondern direkt aus der Wirkung der genetischen Mutation entsteht. Während der Begriff Kanalopathie Defekte in der porenbildenden Untereinheit des spannungsgesteuerten Natrium-, Calcium- oder Kalium-Signalkomplexes impliziert, sind die nicht-porenbildenden Komponenten auch für Physiologie und Krankheit von entscheidender Bedeutung. Neuronale Kanalopathien verursachen verschiedene Gehirnstörungen, einschließlich Epilepsie, Migräne und Ataxie. Mindestens 80 % der Fälle von DS sind mit Mutationen in Genen verbunden.
Mögliche Symptome sind:
Auch Impfungen im Kindesalter, insbesondere Masern-Impfungen, sollten bei der Erkrankung differentialdiagnostisch in die Anamnese einbezogen werden.
Der häufigste Anfallsauslöser bei kleinen Kindern ist ein rascher Wechsel der Umgebungstemperatur – etwa ein warmes oder kaltes Bad. Auch heißes Klima oder eine Veränderung der Körpertemperatur können die Ursache sein. Schon eine leichte Erhöhung der Körpertemperatur kann manchmal zu einem Anfall führen, deshalb muss Fieber stets sofort behandelt werden. Neben körperlicher Anstrengung und Übermüdung, sowie Infekten können auch Aufregung, Lärm oder visuelle Reize zu Anfällen führen.
Die derzeitige Erstlinientherapie für DS ist eine Kombination aus Clobazam und Valproinsäure. Bei therapieresistenten Patienten wird dagegen häufig mit Stiripentol kombiniert – dies ist jedoch keine von der FDA zugelassene Behandlung. Leider bietet diese Kombination nicht nur keine vollständige Anfallskontrolle, sondern verursacht auch bei über 50 % der Patienten schwerwiegende unerwünschte Ereignisse. Eine wirksame Therapie für DS ist daher äußerst begrenzt. Zahlreiche sonst gebräuchliche Antiepileptika verschlimmern sogar die Erkrankung.
Trotz der Verfügbarkeit von über 30 Antiepileptika gibt es nicht DAS Pharmakon für alle Patienten. Die Auswahl erfolgt nämlich – neben der Anamnese – nach einem try and error Verfahren.
Allerdings könnte die Modulation bestimmter Subtypen von Serotoninrezeptoren (5-HT-Rezeptor) bei der Behandlung von Epilepsie und ihren Komorbiditäten eine neue Option sein. Insgesamt existieren 14 verschiedene Serotoninrezeptor-Subtypen, und die meisten Epilepsiestudien konzentrieren sich auf einen oder einige wenige dieser Untereinheiten.
5-HT1A-Rezeptoren sind dabei die am häufigsten untersuchten Rezeptoren in der 5-HT-Forschung. Strukturell unterscheiden sie sich signifikant von den anderen 5-HT-Rezeptoren und zeigen Ähnlichkeiten mit adrenergen Rezeptoren, die möglicherweise die hohe Affinität mehrerer adrenerger Mittel zu 5-HT1A-Rezeptoren erklären. Agonisten des 5-HT1A-Rezeptors haben potenziell anxiolytische, antidepressive, antiepileptische, kognitionssteigernde und neuroprotektive Wirkungen.
Eine neue Therapieoption als Orphan Drug ist nun das Fenfluramin. Das Pharmakon ist ein Amphetamin-ähnlicher Wirkstoff. Er wurde vor rund 20 Jahren als Mittel zur Gewichtsreduktion eingesetzt und wegen schwerer kardiovaskulärer Nebenwirkungen vom Markt genommen. Allerdings steigert Fenfluramin präsynaptisch die Serotonin-Ausschüttung und vermindert dort die Wiederaufnahme; während des Zulassungsprozesses wurden bei Epilepsiepatienten eine Besserung ihrer Symptome beobachtet. Der genaue Wirkmechanismus bei Epilepsie ist jedoch nicht bekannt.
Fenfluramin wirkt u.a. am 5-HT2B-Rezeptor. Der primäre Metabolit Norfenfluramin zeigt eine hohe Affinität und Aktivität an den 5-HT2B- und 5-HT2C -Rezeptoren. „Wir sind der Meinung, dass die verfügbaren präklinischen und klinischen Studien die Rolle der serotonergen Modulation, insbesondere der Stimulation, als vielversprechenden Weg in der Epilepsiebehandlung unterstreichen“, schreiben die Autoren um Sourbron et al.
Das entsprechende Orphan-Drug enthält eine orale Fenfluramin-Lösung (2,2 mg/ml). Laut einer Studie von Lagae et al. kann niedrig dosiertes Fenfluramin die Anfallsfrequenz von Kindern mit DS deutlich senken.
119 Patienten erhielten zusätzlich zu ihrer antiepileptischen Medikation entweder täglich 0,2 oder 0,7 mg Fenfluramin pro kg Körpergewicht oder ein Placebo. Während der 14-wöchigen Studie ging die Anfallsfrequenz unter der höheren Dosierung um fast 75 % zurück – von anfangs 20,7 auf 4,7 Anfälle innerhalb von 28 Tagen. Unter der niedrigen Dosierung traten zudem 42,3 % weniger Anfälle auf (von 17,5 auf 12,6 pro 28 Tage) und unter dem Placebo lediglich 19,2 %.
Zu den häufigsten Nebenwirkungen, die mehr als jeder zehnte Patient unter Fenfluramin angab, gehörten verminderter Appetit, Durchfall, Müdigkeit, Lethargie, Schläfrigkeit und Gewichtsabnahme. Ebenso können Atemwegsinfekte und Bronchitis auftreten. Bei allen untersuchten Kindern konnten keine Störungen der Herzklappenfunktion und -morphologie oder Anzeichen einer pulmonal-arteriellen Hypertonie erfasst werden. Fenfluramin wird bei Dravet-Patienten zwar in deutlich geringeren Dosen als früher als Appetitzügler eingesetzt, dennoch ist aufgrund möglicher Risiken ein echokardiografisches Monitoring während der antiepileptischen Therapie vorgesehen.
Steckbrief Fenfluramin
Name der Erkrankung
Draved-Syndrom
Weitere Namen
DS,
SMEI (severe myoclonic epilepsy in infanc)
Häufigkeit
1 : 16.000
Gestörte Funktion/Symptome
Epileptische, generalisierte Krämpfe
Agitiertheit
verzögerte Sprachentwicklung
Ataxie
orthopädische Probleme
motorische bzw. Gleichgewichtsprobleme
niedriger Muskeltonus
Genlokalisation
Mutation des SCN1A-Gens (Sodium channel protein type 1 subunit alpha)
Orphan drugs
Fenfluramin (Fintepla ®)
Wirkung
Antiepileptische Wirkung unklarer Genese, vermutlich durch Serotoninagonismus
Da Antiepileptika, auch Fenfluramin, nicht bei allen Patienten effizient ansprechen, ist man auf der Suche nach weiteren Wirkstoffen. Eine weitere Therapieoption im akuten Anfall sind Benzodiazepine. Demnach können die Benzodiazepine noch als erste Wahl bei Patienten mit DS verwendet werden. Als zweite Wahl diene dann Phenobarbital – noch vor dem kontinuierlichen Einsatz von Midazolam. Allerdings gibt es vermutlich keine vorhersagbaren klinischen Merkmale, die zeigen, bei welchen Patienten Benzodiazepine wirksam sein werden.
Eine weitere potentielle Option: Cannabidiol (CBD) ist ein nicht-psychoaktives Phytocannabinoid, das in Cannabis vorkommt. Aufgrund seiner krampflösenden Eigenschaften wird es insbesondere bei pharmakoresistenten Patienten zur Behandlung vom DS getestet. Eine Vielzahl von Mechanismen der antikonvulsiven Wirkung von CBD konzentriert sich auf die Modulation von Ionenkanälen, insbesondere der Natrium-, Kalzium- und Kaliumkanäle.
Die Forschung zur Endocannabinoid-Signalübertragung hat das Verständnis darüber, wie die Erregbarkeit neuronaler Schaltkreise bei Gesundheit und Krankheit gesteuert werden, erheblich erweitert. Endocannabinoide vermitteln die retrograde Unterdrückung der synaptischen Übertragung durch präsynaptische CB1-Rezeptoren. Die Endocannabinoid-Signalgebung an erregenden Synapsen beeinflusst die Erregbarkeit durch Hemmung der Glutamatfreisetzung. Hingegen wird die Erregbarkeit durch Hemmung der GABA-Freisetzung gefördert.
Im Gehirn von Epileptikern werden die physiologischen Verteilungen von Endocannabinoid-Signalmolekülen während der Epileptogenese gestört, was zum Auftreten spontaner Anfälle beiträgt. Aktuelle Studien untersuchen daher die klinische Anwendung von Cannabidiol (CBD) zur Behandlung von refraktärer Epilepsie wie DS und dem Lennox-Gastaut-Syndrom. Cannabidiol reduziert demnach signifikant Anfälle und wird gut mit herkömmlichen Antiepileptika vertragen. Es wird angenommen, dass die krampflösende Wirkung von CBD auf seinen Effekt auf mehrere verschiedene Ionenkanäle zurückzuführen sein könnte, die der Kanalopathie von DS zugrunde liegen.
Lorcaserin, ein selektiver 5-HT2C -Rezeptoragonist, wurde ebenfalls als Appetitzügler entwickelt, um das Risiko einer kardiovaskulären Toxizität wie bei Fenfluramin zu minimieren. Acht Jahre nach der FDA-Zulassung wurde es jedoch vom Markt genommen, als eine große Sicherheitsstudie auf ein potenzielles Krebsrisiko hindeutete.
Lorcaserin tritt nun in die Fußstapfen von Fenfluramin: Es befindet sich derzeit in der klinischen Entwicklung zur Behandlung von Epilepsie. Diese potenzielle neue Indikation baut auf dem Nachweis auf, dass 5-HT2C die Rezeptorstimulation vor Krampfanfällen schützen kann. Zumindest erklärt es teilweise die antikonvulsiven Wirkungen von Fenfluramin in Dravet-Syndrom-Modellen. Vorläufige unkontrollierte Studien bei Patienten mit DS haben vielversprechende Ergebnisse erbracht, und derzeit läuft eine doppelblinde, placebokontrollierte Parallelgruppenstudie der Phase-III, um die Wirksamkeit und Sicherheit bei Kindern und Erwachsenen mit Dravet-Syndrom zu bewerten.
Bildquelle: John Thomas, unsplash.