Viele Krebspatienten haben erhöhte LDH-Werte. Erklärt wird das üblicherweise mit toten Zellen. Stimmt aber gar nicht!
Dass Krebs mit erhöhten Werten des Enzyms Laktatdehydrogenase (LDH) assoziiert ist, ist eine Erkenntnis, die schon fast ein dreiviertel Jahrhundert auf dem Buckel hat. Beschrieben haben das zum Beispiel Borroughs Hill und Clifford Levi im Jahr 1954. Erklärt werde die LDH-Erhöhung üblicherweise mit einem erhöhten Zellumsatz, schreibt Tony Breu von der Veterans' Administration in Boston, der der Thematik kürzlich ein langes Twitter-Tutorial gewidmet hat.
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Schauen wir uns das mal etwas genauer an.
Das mit dem erhöhten Zellumsatz kann irgendwie nicht so ganz stimmen. Die Hypothese, dass zugrunde gehende (Krebs-) Zellen fröhlich LDH freisetzen, welches dann die Serumkonzentrationen in die Höhe treibt, hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Die Sache wird schon dadurch fraglich, dass Krebs zwar mit Zellproliferation, aber eben nicht mit einer verstärkten, sondern eher mit einer abgeschwächten Apoptose-Neigung einhergeht. Die fehlende Neigung zum plötzlichen Zelltod ist geradezu eines der Kardinalmerkmale der Malignität.
Die zweite denkbare Erklärung geht schon eher in die richtige Richtung: Wenn das LDH nicht durch vermehrten Zelltod entsteht, entsteht es dann vielleicht dadurch, dass Tumorzellen vermehrt und aktiv LDH produzieren? Das konnte in der Tat gezeigt werden, und zwar auch schon vor 25 Jahren. Im Kern fanden die Wissenschaftler damals heraus, dass die LDH-A, die im gesunden Organismus an der anaeroben Glykolyse beteiligt ist, in Krebszellen überaktiv ist – und zwar als Reaktion auf unterschiedliche Signalmoleküle des Tumors, darunter c-Myc und Hypoxie-induzierbarer Faktor 1 (HIF-1).
Macht das Sinn? Kurze Rekapitulation der Glykolyse: Sie dient bekanntlich dem Energiegewinn durch anaerobe Umwandlung von Glukose in Pyruvat. Aus einem Molekül Glukose entstehen zwei Moleküle Pyruvat und zweimal ATP. Das ATP ist die „universelle Energiewährung“ des menschlichen Körpers, ein kurzfristiger Energiespeicher und Energieüberträger, der Energie als Phosphatgruppen zur Verfügung stellt. Pyruvat wird dann durch die Pyruvat-Dehydrogenase in Acetyl-CoA umgewandelt, dabei entsteht zweimal NADH + H+.
NADH ist ein so genanntes Reduktionsäquivalent, eine von zwei wichtigen Elektronenschleudern in komplexeren Organismen. Weitere Reduktionsäquivalente entstehen aus Acetyl-CoA im Citrat-Zyklus. Ist Luftatmung in der Nähe, feuert NADH die Atmungskette an und überträgt seine Elektronen auf Sauerstoff, was im Vergleich zur mäßig ertragreichen Glykolyse enorme Energiemengen zur Verfügung stellt. Ist kein Sauerstoff in der Nähe, kommt die LDH ins Spiel und reduziert das Pyruvat der Glykolyse im Rahmen der Milchsäuregärung zu Laktat. Dieser Schritt bringt keine Energie, aber er entsorgt oder „recycelt“ NADH durch Oxidation zu NAD+.
An dieser Stelle könnte es bei dem einen oder anderen medizinhistorisch interessierten Leser klingeln: Im April 2022 jährt sich zum 99. Mal die Publikation Versuche an Überlebendem Carcinom-Gewebe von Otto Warburg, in der dieser den später nach ihm benannten Warburg-Effekt (auch: Warburg-Hypothese) beschreibt. Krebs, so Warburg, entstehe vielleicht deswegen, weil einige Zellen anfangen, ihre Energie durch unkontrollierte Glyklolyse zu erzeugen, weswegen sie dann (sekundär, so Warburgs Hypothese) wie wild Laktat produzieren, und zwar auch dann, wenn der Organismus an sich gar keinen Mangel an Sauerstoff hat. Passend zur Warburg-Hypothese ist die Glukoseaufnahme von Tumorzellen stark erhöht – was jeder weiß, der schon mal einen Tumor in der FDG-PET-Untersuchung leuchten sah.
Die entscheidende Frage ist natürlich: Wie und warum macht ein Tumor das? Die Antwort auf das „Wie?“ liefern die schon erwähnten Onkogene. HIF-1 beispielsweise sorgt dafür, dass mehr Glukose in die Zellen hineinkommt. Es hemmt gleichzeitig die Pyruvatdehydrogenase und damit die Atmungskette, während es die LDH und damit die Milchsäuregärung aktiviert. Tumore nutzen ihren „Wirt“ also, um diesen Stoffwechselweg, der eigentlich eine suboptimale Stoffwechselalternative für Notfälle, sprich anaerobe körperliche Belastung, ist, aktiv aufrecht zu erhalten: Laktat wird in der Leber energieaufwändig in Glukose zurückverwandelt – eine der möglichen Ursachen der Tumorkachexie.
Aber warum das Ganze? So ganz klar ist das nicht. Eine Antwort, die gleichzeitig eine Widerlegung der Warburg-Hypothese wäre, könnte in der Mikroumgebung des Tumors liegen. Laktat führt nämlich zu einer Azidose in der Umgebung der Tumorzellen, und davon könnte der Tumor profitieren – etwa wenn die Immunreaktionen in einer für das Tumorwachstum günstigen Weise moduliert werden, oder wenn das extrazelluläre Milieu so verändert wird, dass es eine Metastasierung oder eine lokale Tumorausbreitung begünstigt.
Es sind diese Überlegungen, die einige Onkologen dazu bringen, in Laktat mehr als nur ein Nebenprodukt des Tumorstoffwechsels zu sehen. In einem Review in der Zeitschrift Carcinogenesis diskutierten Prof. Inigo San-Millan und Prof. George Brooks von der Universität Colorado, ob Laktat nicht vielmehr der ganze Sinn und Zweck des Warburg-Effekts sein könnte. Während Warburg die massive Glykolyse bzw. die Hemmung der Atmungskette als Ursache des Tumors und Laktat nur als ein Abfallprodukt sah, neigen moderne Physiologen eher zu der Auffassung, dass ein – wodurch auch immer – verursachter Tumor sich mit Hilfe des Laktats und damit der LDH am Leben erhält bzw. ausbreitet. Da sage einer, hundert Jahre alte Forschung sei heute nicht mehr inspirierend.
Bildquelle: National Cancer Institute, Unsplash