„Ich kenne die Zahlen, die Impfung wäre gut – aber mein Bauchgefühl ist dagegen.“ Als Ärztin habe ich diese Worte zu oft gehört, nicht nur in Sachen Corona. Doch Gefühle können auch ein schlechter Ratgeber sein.
Was ist eigentlich das Ziel eines Arztes? Viele würden, glaube ich, darauf sowas antworten wie „anderen helfen“, „andere gesund machen“ oder Ähnliches. Gleichzeitig habe ich aber zunehmend das Gefühl, dass wir uns laut der gesellschaftlichen Vorgaben eigentlich an etwas anderem orientieren sollen – dem persönlichen Gefühl oder Bauchgefühl der Patienten.
Das führt (zumindest für mich) inzwischen manchmal zu echt paradoxen Situationen, denn dieses Bauchgefühl korreliert nicht unbedingt mit Gesundheit. Und natürlich sollen wir als Ärzte ja nicht mehr autoritär eine Richtung vorgeben, sondern mit dem Patienten gemeinsam die Entscheidung treffen (Stichworte „shared decision making“ und „informed consent“).
Zum Beispiel: Für jemanden, der seit 20 Jahren raucht, fühlt sich das Rauchen nicht schlecht an. Er mag intellektuell wissen, dass es nicht gut für ihn ist, aber sein Bauchgefühl kann da nur sehr wenig mit anfangen (in gewisser Weise ja der Punkt bei einer Suchterkrankung, auch wenn es „nur“ Nikotin ist). Deswegen höre ich oft, dass es erst Klick machen muss, bevor derjenige überhaupt (nochmal?) versucht, mit dem Rauchen aufzuhören. Diese Klicks sind aber leider dann erst massive Folgeerscheinungen (z. B. Durchblutungsstörungen, Herzinfarkte, bösartige Erkrankungen) und kein „eines Morgens wachte ich auf und es hatte Klick gemacht“. Bei Frauen kann eine Schwangerschaft mal für einen solchen (leider oft nur zeitlich begrenzten) Klick sorgen, und manchmal klickt es auch, wenn im Bekanntenkreis was passiert, aber grundsätzlich ist das leider doch eher selten.
Dasselbe gilt für viele Erkrankungen aus dem Präventionsbereich. Bluthochdrucktabletten sind nicht sehr beliebt. Viele merken den erhöhten Blutdruck nicht, sondern sehen nur die Tabletten, die ihnen subjektiv nichts bringen. Im Gegenteil kommt es gerade bei langfristigem Bluthochdruck dazu, dass eine Absenkung in den Normbereich sich eventuell eher unangenehm anfühlt, weil der Körper an die hohen Werte angepasst ist. Ein normaler Wert kann dann sogar Symptome einer Hypotonie auslösen (weniger Antrieb, Schwindel, etc.). Also sagt das Bauchgefühl, dass das gar nicht mal so toll ist – und alles wird wieder abgesetzt.
Bitte nicht falsch verstehen: Mir ist klar, dass gerade deswegen ja die ärztliche Begleitung so wichtig ist, damit die Patienten verstehen, warum sie das tun sollen. Aber ich habe in letzter Zeit so oft das Bauchgefühl als finales Argument GEGEN eine sinnvolle Maßnahme gehört, dass ich da gerade einfach nur noch den Kopf schütteln kann. Natürlich soll man sich nicht extrem mies fühlen (deswegen dosiere ich gerade Bluthochdruckmedikamente lieber sehr langsam ein). Aber irgendwie müssen wir uns als Gesellschaft schon überlegen, was wir da machen, wenn wir das Bauchgefühl als entscheidende Instanz werten, egal was für (Kopf-) Argumente es gibt.
Ich könnte noch viele andere Beispiele nennen, wo Bauch über Kopf entschieden wird … . Es reicht von Schönheits-OPs („Ich brauche diese Brust-OP für ein besseres Körpergefühl“), über aktuell natürlich das große Thema Impfungen (ja, wir haben mehrere Patienten, die uns sagen, dass sie zwar die Zahlen kennen und auch glauben, dass es eigentlich gut wäre, sich impfen zu lassen – „Aber mein Bauchgefühl spricht dagegen“) bis hin zu seltenen, aber leider sehr tragischen Fällen, wo aus dem Bauchgefühl ein schlimmer Schaden entstanden ist.
Ein Beispiel: Ein Patient kam vor 2–3 Jahren zu mir und beschrieb eine kurzzeitige Sprachstörung. Ich erklärte ihm, dass dies durchaus ein kleiner Schlaganfall gewesen sein und sich so etwas auch wiederholen könnte. Deswegen würde ich ihn gern einweisen, damit das sofort abgeklärt werden kann, weil es sein kann, dass der nächste Schlaganfall größer ist. Er meinte aber, sein Gefühl sei, dass alles vorbei sei und man ja jetzt Zeit habe. Ich habe ihn wirklich ausführlich aufgeklärt (bestimmt 20, 30 Minuten) und ihn am Ende auch unterschreiben lassen, dass er sich des Risikos eines schweren Schlaganfalls mit bleibenden Folgen bis hin zum Tod bewusst ist. Das ist für mich immer das allerletzte Mittel, um die Schwere der Situation klar zu machen. Aber in dem Fall half es gar nichts. Der Patient ging mit (dringenden) ambulanten Überweisungen für ein Schädel-CT, einen Neurologen, einem Termin für ein Langzeit-EKG zur Diagnostik von Herzrhythmusstörungen, etc. nach Hause. Keine 3 Stunden später hatte er einen schweren Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr richtig erholt hat.
Ja, auch solche Fälle gehören dazu, das weiß ich. Trotzdem finde ich diese Situation durchaus belastend. Wir wollen gerne helfen, aber in gewisser Weise ist das Bauchgefühl das ultimative Totschlag-Argument. Es ist ein Gefühl, soll somit von uns als Ärzten ja akzeptiert und einbezogen werden, obwohl man als Arzt weiß, dass das wahrscheinlich nicht der beste Ratgeber ist.
Und auch ein Bauchgefühl entsteht ja oft nicht aus dem Nichts. Nochmal zum Beispiel Tabak: Es sind Milliarden geflossen, um das (Bauch-) Gefühl des „freien Cowboys“, des „coolen Machers“ oder der Zigarette als Beruhigung zu vermitteln, zum Beispiel durch Werbung oder Product Placements in Filmen. Bei Ernährung und Alkohol sieht es ähnlich aus – oder glaubt jemand allen Ernstes, dass die Fußballer vor dem Spiel die Getränke trinken, die in der Werbung vorher eingeblendet werden und mit Bierfahne auf dem Platz auflaufen? Nein, es geht darum, ein angenehmes Gefühl zu vermitteln, damit eben das Bauchgefühl nach Bier verlangt. Der Sport selbst braucht nicht das Bier – der nimmt nur gern das Geld.
Und auch Schönheits-OPs sind ein finanziell umkämpfter Markt. Es besteht ein knallhartes wirtschaftliches Interesse, also wird durch Werbung bewusst ein Bauchgefühl erzeugt, damit Menschen bestimmte Dinge kaufen. Und dank des personalisierten Internets wird man auch immer weiter in eine Richtung gezogen, wenn man sich einmal dafür interessiert hat.
Was das Thema Bauchgefühl und Risiko-Abschätzung angeht: Es gibt diverse Studien, die immer wieder erklären, wie schlecht wir bei dem Thema abschneiden. Deswegen gibt es ja auch die diversen Scores, die uns Ärzten beim Abschätzen von Risiken helfen sollen (CHADS-Vasc-Score, McIsaac-Score, etc.). Aber irgendwie entwickelt es sich auseinander: Theoretisch sollten wir uns laut einiger Evidenz-Verfechter eigentlich ja am besten NUR noch an Scores orientieren, weil nur diese objektiv seien (aber leider oft vereinfachen/verkürzen, um übersichtlich zu bleiben, was der komplexen Realität nicht gerecht wird). Andererseits entscheidet am Ende nicht der Score, sondern ein Bauchgefühl, was dann leider bei manchen Patienten überhaupt keinen Argumenten mehr zugänglich ist.
Ich denke, dass wir uns sowohl in der Medizin als auch in der Gesellschaft mit diesem Problem irgendwie auseinandersetzen müssen. Zu behaupten, dass ja jeder „die Freiheit habe, Werbung nicht zu sehen“ setzt ja schon eine kritische Grundhaltung mit dem Thema Werbung voraus, die kaum jemand hat. Und die vielen Filme, die immer wieder zeigen, wie das Bauchgefühl jemanden gegen alle Widerstände (und je nach Film auch gegen jede Logik und mit vielen „Zufällen“) zum Happy-End führt, tragen sicher auch dazu bei. Und auch Schulen sind nicht unbedingt ein Ort, wo Risikoabschätzung unterrichtet wird (Hochachtung vor den Lehrern, die das zu vermitteln versuchen!!!).
Um es nochmal klarzumachen: Das heißt nicht, dass man Gefühle komplett missachten soll. Sie können auch EIN Ratgeber sein – aber ich glaube schon, dass man sie gemeinsam mit den logischen/wissenschaftlichen/evidenzbasierten Argumenten betrachten sollte. Wofür machen wir denn den ganzen Evidenz-Aufwand, wenn am Ende entscheidend ist, was vorher für ein Bauchgefühl vermittelt wurde? Das ist doch widersinnig … .
Deswegen mein Appell: Bitte aufhören mit dieser Überbetonung des (Bauch-) Gefühls. Für eine gute/integrative/ganzheitliche Medizin brauchen wir beides – wissenschaftliche Argumente und eine Vermittlungsform, die auch das Bauchgefühl des Patienten mit anspricht. Aber wenn wir als Gesellschaft schon den Kindern beibringen, dass ihr subjektives Gefühl das absolute Nonplusultra ist („Hauptsache, ihr habt Spaß!“), dann dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn es mit dem Gesundheitsverhalten nicht so richtig gut klappt.
Also bitte mit Bauch (und Herz) UND Hirn – im Körper gehört alles zusammen.
Bildquelle: mohammad alizade, Unsplash