Kaiser Karl hält Sprechstunde: Gesundheitsminister Lauterbach sprach mit der KBV zu Personalkosten, Digitalisierung und Versorgungsengpässen. Vieles blieb im Vagen.
„Was die Ukrainekrise angeht, können Sie sich auf uns verlassen“ – Das gaben die KBV-Vorstände Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach unmissverständlich und gleich mehrfach mit auf den Weg, und der bedankte sich dann auch ausdrücklich. Dass der Krieg in Osteuropa derzeit auch die Gesundheitspolitik überschattet, war offensichtlich, als sich der Minister am Donnerstagabend, ukrainebedingt einen Tag früher als geplant, zum KBV-Diskussionsformat „PraxisCheck“ begab. Fast zeitgleich kamen wenige hundert Meter entfernt, am Berliner Hauptbahnhof, Züge aus Polen mit Hunderten von ukrainischen Flüchtlingen an.
Der PraxisCheck ist eine Art Sprechstunde, bei der die KBV-Vorstände zuvor eingesammelte Fragen niedergelassener Ärzte und Psychotherapeuten teils einspielen, teils vorlesen, die der Gast daraufhin beantwortet. Es war das erste Mal, dass sich Lauterbach in dieser Unmittelbarkeit der ärztlichen und psychotherapeutischen Basis stellte. Entsprechend gespannt waren viele, wie er sich schlagen würde.
Durchwachsen ist wahrscheinlich das Wort, das den Auftritt am besten beschreibt. Der Minister ließ keine Gelegenheit aus, sich als Arzt darzustellen, der exzellente Verbindungen in die praktizierende Medizin habe. Gleich mehrfach ließ er einfließen, wie er in seinem Umfeld regelmäßig bei der Organisation von Zweitmeinungen helfe, wie ‚eng‘ er mit führenden Onkologen und vielen Psychotherapeuten sei, wie gut er sich mit evidenzbasierter Medizin auskenne und wie stark er überhaupt in vielen Kreisen vernetzt sei. Das klingt auf Anhieb stark nach „Karl Lauterbach, wie er leibt und lebt“, man erinnere sich an die ständige Betonung seiner Harvard-Kontakte in der Pandemie. Tatsächlich ist es ein recht typisches Einstandsritual für neue Minister.
Viel interessanter war die Frage, was er inhaltlich zu sagen hatte. Und da gab es deutliche Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Themenblöcken. Relativ stark war Lauterbach an den Stellen, an denen es um die künftige Organisation der Versorgung, um Themen wie Ärztemangel, Ausdünnung der Versorgung auf dem Land, Delegation und Substitution ging. Sehr enttäuschend waren dagegen vor allem die Antworten im Bereich der Digitalisierung.
Der Reihe nach: In bisher so nicht gehörter Deutlichkeit kündigte Lauterbach an, sich für eine Erhöhung der Anzahl von Medizinstudenten um jährlich 5.000 Studenten einzusetzen. Dies sei schon in den Koalitionsverhandlungen Thema und auf Fachebene konsentiert gewesen, sei dann jedoch auf Ländereben gescheitert. Das Thema sei aber keinesfalls vom Tisch: „Ohne eine Steigerung der Medizinstudierendenzahlen werden wir in eine massive Unterversorgung hineinlaufen. Wir werden die Versorgungsdichte sonst nicht halten können.“
Nun ist diese Erhöhung der Studentenzahlen natürlich eine Langzeitmaßnahme, die frühestens in zehn Jahren greifen würde. Kurzfristig will Lauterbach daher bereits an die Bedarfsplanung herangehen. Da lägen derzeit zwei Planungsvorschläge auf dem Tisch, und für beide signalisierte der Minister eine gewisse Sympathie. Zum einen sind es Überlegungen, die vorsehen, die Politik selbst stärker als Akteur in die Bedarfsplanung einzubringen: „Ich wüsste eine Reihe von Parametern, die wir nutzen könnten, um zu einer besseren Verteilung von Ärztinnen und Ärzten zu kommen“, so Lauterbach. Zum Zweiten ist eine Erweiterung der Möglichkeiten für Kassenärztliche Vereinigungen, Arztpraxen in unterversorgten Regionen selbst zu betreiben. Das wollten früher weder die KVen noch die Politik. Hier gab es offensichtlich auf beiden Seiten ein Umdenken.
Ein recht umfangreicher Teil der ministerialen ‚Sprechstunde‘ drehte sich erwartungsgemäß um Fragen, die im weitesten Sinne die medizinische und (betriebs)wirtschaftliche Praxis der niedergelassenen Leistungserbringer betrafen, bei Ärzten wie auch Psychotherapeuten. Zum Thema Erhöhung der Attraktivität der Selbständigkeit kam das Stichwort Entbürokratisierung, verknüpft mit der freilich unkonkreten Aussage, als Minister habe er eine „Netto-Sicht“ der Dinge. Will sagen, die Zeit, die den Ärzten ‚netto‘ für Patientenversorgung zur Verfügung steht – und nicht für andere Dinge draufgeht –, müsse steigen. Das haben so oder ähnlich alle Gesundheitsminister der jüngeren Vergangenheit gesagt. Passiert in Sachen Entbürokratisierung ist bekanntlich wenig.
Fragen kamen natürlich auch zum Thema Geld, und hier konkret zu den in einigen Praxen stark gestiegenen Personalkosten im Kontext Delegation. Das betrifft zum Beispiel Physician Assistants (PA) bzw. Agnes/Verah-Mitarbeiter, die Hausbesuche im Auftrag der Praxen vornehmen. Dies seien Sprungkostenentwicklungen, die im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben über den EBM nicht abgebildet werden könnten, so KBV-Vorstandsmitglied Dr. Stephan Hofmeister. Konkrete Zusagen gab es hier von Lauterbach natürlich nicht, aber doch die Botschaft, dass dieses Anliegen wohlwollend geprüft werde. Lauterbach sieht in diesen Konzepten ein gutes Beispiel für ein Miteinander unterschiedlicher Berufsgruppen und für funktionierende Delegations- bzw. Substitutionsmodelle.
Was die psychotherapeutische Versorgung und die Versorgungsdichte in diesem Bereich angeht, äußerte sich der Minister sehr differenziert. Er schließe ausdrücklich nicht aus, dass neue zusätzliche Sitze ausgewiesen werden müssten. Allerdings sei die Psychotherapeutendichte in Deutschland im internationalen Vergleich schon recht hoch. Tatsächlich gebe es in Deutschland vor allem für Patienten mit schweren und chronifizierten psychischen Leiden Versorgungsengpässe, während leichter bis mittelschwer erkrankte Personen weniger Schwierigkeiten hätten. Dies habe seiner Auffassung nach auch mit der Honorierung zu tun: „Wir haben hier ein ernstzunehmendes Problem, und es ist nicht nur die Zahl der Sitze“, so Lauterbach.
Eher enttäuschend war der recht lange Fragenpart zur Digitalisierung, wo KBV-Vorstandsmitglied Thomas Kriedel fast verzweifelt versuchte, den Minister zu einer Aussage zu den derzeit in den Arztpraxen erlebten Schwierigkeiten mit Basisfunktionen der Telematikinfrastruktur zu bewegen. Der Minister dagegen wollte vor allem über die versorgungsverbessernden und bürokratiereduzierenden Potenziale der elektronischen Patientenakte (ePA) reden. Hier brachte er eigene Erfahrungen beim Organisieren von Zweitmeinungen in Stellung und skizzierte den großen Nutzen, den eine mit strukturierten Datensätzen („Medizinische Informationsobjekte“, MIO) hinterlegte ePA haben werde, da sie nicht zuletzt gezielte Suchfunktionen ermöglichen werde.
Der Nutzen einer solchen „strukturierten“ und damit durchsuchbaren ePA ist allerdings seit Langem völlig unstrittig. Die ePA scheiterte bisher nicht an der fehlenden Vision, sondern an ihrer Komplexität in der Umsetzung im deutschen Gesundheitswesen- und Datenschutzkontext, was wiederum unmittelbar mit den derzeit erlebten Problemen bei der Telematikinfrastruktur in Zusammenhang steht. Nicht zuletzt wegen der ePA-Komplexität hatte sich die Vorgängerregierung dafür entschieden, die weniger komplexen Anwendungen eAU und eRezept zu priorisieren. Das aber ist aus Lauterbachs Sicht „reine Formulardigitalisierung“ und bringe den Ärzten und Patienten kaum einen Nutzen. Deswegen habe er die Anwendungen auch gestoppt – was nicht ganz stimmte. Die eAU wurde um halbes Jahr verschoben, nur beim eRezept fiel die Deadline ganz.
Auch bei dem im Koalitionsvertrag angelegten Thema einer Überführung der gematik in eine „Bundesagentur für Digitalisierung“ blieb der Minister komplett im Vagen. Darüber müsse noch diskutiert werden, allerdings habe er, Lauterbach, sich „mit Olaf Scholz, dem Bundeskanzler, ausdrücklich besprochen“. So wie es derzeit sei, könne es jedenfalls nicht bleiben. Die Bundesagentur für Digitalisierung sei ein zentrales Projekt der Ampel-Koalition. Sie werde der Politik mehr Möglichkeiten einräumen: „Lassen Sie es so mal stehen an diesem Punkt.“
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