Schwangerschaft, Geburt und Krebs sind Ausnahmezustände – Angst ist dabei normal. Dazu kommen Corona und jetzt auch noch der Ukraine-Krieg. Aber wann werden Ängste irrational?
Angst ist eine völlig normale Schutzreaktion auf Stimuli, die Gefahren signalisieren. Verstärkter Muskeltonus, erhöhte Herzfrequenz und Hyperventilation sind vegetative Reize, die eine Fluchtreaktion oder die Vorbereitung auf Verteidigung ermöglichen sollen. So sinnvoll das bei akuter Gefahr ist, kann es ohne echte Bedrohung pathologisch sein. Spätestens seit der Corona-Pandemie kennen viele eine diffuse Angst vor Infektionen, manche auch vor Impfungen und jetzt auch noch vor möglicher Kriegsgefahr.
In der Gynäkologie gibt es konkrete Anlässe, die Patientinnen in Angst versetzten können. Das ruft eine längst überfällige Stärkung der sprechenden Medizin wieder neu auf den Plan.
Bei allen Angststörungen sind Frauen etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Man unterscheidet phobische Störungen von anderen Angststörungen. Phobien gehören zu den häufigsten Angststörungen und tragen folgende Merkmale:
Die Agoraphobie ist eine komplexe Phobie, die es Betroffenen schwer macht, das Haus zu verlassen, Menschenmengen zu begegnen oder auf öffentlichen Plätzen zu sein. Soziale Phobien erschweren die Begegnung mit Menschen und spezifische Phobien erzeugen Angst vor Tieren, Enge oder Höhe.
Anspannung und Stress können zu Panikstörungen führen, die eine ausgeprägte körperliche Angstreaktion hervorrufen. Generalisierte Angststörungen sind gekennzeichnet von exzessiven Sorgen und Gedankenspiralen in nahezu allen Lebensbereichen. Darunter fallen Symptome wie Ruhelosigkeit, Reizbarkeit, Konzentrations- und Schlafstörungen. Eine subsyndromale Angststörung ist eine weniger ausgeprägte Form, kann aber fließend in eine generalisierte Störung übergehen. Komorbiditäten sind Depression, Suchterkrankungen sowie kardiovaskuläre Erkrankungen.
Gewisse Ängste vor und während einer Schwangerschaft, unter der Geburt und postpartal sind häufig und völlig normal. Junge Frauen sind medial meist gut informiert und wollen alles richtig machen. Das beginnt mit dem Kinderwunsch und Fragen zur Ernährung, was gemieden werden sollte und welche Zusatzstoffe wichtig sind. Unterstützend wirkt eine ausführliche Beratung über Verhaltens- und Hygienemaßnahmen, Vermeidung von Noxen und Empfehlung zu einer ausreichenden Jod-Folsäure-Zufuhr.
Eine individuell auf die Bedürfnisse der Schwangeren angepasste Pränataldiagnostik kann Ängste nehmen oder das Recht auf Nichtwissen bestärken. Vorbereitungskurse, Kreißsaalführungen und vorausschauende Kontaktaufnahme mit einer Hebamme des Vertrauens sind Garanten für Angstabbau vor der Geburt.
Dennoch läuft nicht immer alles nach Plan. In einer 2020 veröffentlichten Multicenter-Studie mit über 700 Frauen nach frühem Schwangerschaftsverlust wurde gezeigt, dass 24 % aller Patientinnen nach einer Fehlgeburt zum Teil schwere Angstsymptome innerhalb eines Monats aufwiesen, bei 17 % noch nach neun Monaten. In 11 % trat nach einem Monat eine Depression, in 9 % nach neun Monaten hinzu. Die Kriterien für posttraumatischen Stress waren bei 29 % der betroffenen Frauen nach einem Monat und bei 18 % nach neun Monaten erfüllt. Auch neun Monate nach einer Fehlgeburt wurden bei 16 % der Betroffenen Kriterien für posttraumatischen Stress, bei 17 % für Angstzustände und bei 5 % für Depressionen gefunden.
Die häufigste Aussage in der Schwangerenbetreuung – „Hauptsache gesund“ – drückt die große Sorge werdender Eltern um die Unversehrtheit ihres Kindes aus. Eine weit entwickelte Pränataldiagnostik kann mittlerweile viele Ängste nehmen, schafft aber auch Verunsicherungen durch Zufalls- und harmlose Kontrollbefunde. Das schafft eine Gratwanderung zwischen nötiger Diagnostik und dem Recht auf Nichtwissen.
Eine postpartale Depression ist vom sogenannten Baby Blues, den 50–80 % der Frauen kurz nach der Geburt erleben, abzugrenzen. Es handelt sich in 10–15 % um eine schwere depressive Episode, die über mindestens zwei Wochen anhält. Hauptsymptome wie gedrückte Stimmung, Interessen- und Antriebslosigkeit werden flankiert von Nebensymptomen wie Ängstlichkeit, Grübeln, Unruhe und Schlafstörungen. Einerseits fällt es schwer, eine emotionale Beziehung zum Kind herzustellen, andererseits plagen die Betroffenen Selbstzweifel an ihrer Mutterrolle. Pathophysiologisch macht man den Abfall von Allopregnanolon, einem GABA-Modulator, verantwortlich. Risikofaktoren sind frühere depressive Episoden und Angsterkrankungen, die anamnestisch hellhörig machen sollten. Zur Diagnostik dient die Edinburgh Postnatale Depression Skala (EPDS), die gut evaluiert und einfach durchführbar ist.
Die Angst vor einer Corona-Infektion während der Schwangerschaft ist berechtigt. Schwangere gehören zur Hochrisikogruppe, da sie ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe und ungünstige Schwangerschaftsausgänge haben. Die Anzahl an Frühgeburten bei Schwangeren mit einer SARS-CoV-2-Infektion ist erhöht. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe rät daher dringend zur Impfung von Schwangeren ab dem 2. Trimenon, einschließlich eines Boosters.
Tumorerkrankungen verursachen Ängste: Vor der Therapie, den möglichen Langzeitfolgen und der Prognose. Bei ausgedehnten Eingriffen fürchten Frauen um kosmetische und hormonelle Veränderungen, um Auswirkungen auf Partnerschaft und Sexualität. In einer retrospektiven Analyse aus dem psychiatrischen Konsiliardienst der Charité stellte man fest, dass bei Mammakarzinomen und anderen gynäkologischen Krebserkrankungen häufig Depressionen und Angsterkrankungen beobachtet wurden. Aus diesem Grund sind zeitnahe psychoonkologische Beratungen sehr wichtig.
Im Übergangsbereich subsyndromale Angst und pathologische Angsterkrankung können phytotherapeutische Interventionen, etwa mit Lavendelpräparaten, Lebensstilveränderungen und Gesprächsangebote hilfreich sein.
Therapie der Wahl bei manifesten Erkrankungen ist die Psychotherapie. Für die Panikstörung, generalisierte Angststörung und phobische Störungen hat sich die kognitive Verhaltenstherapie bewährt. Auch bei der pränatalen Angststörung und depressiven Symptomatik ist eine Psychotherapie mit positiven Evidenzen belegt. Weiterhin gibt es gute Belege für eine ergänzende Pharmakotherapie mit verschiedenen Antidepressiva, deren Einsatz fachübergreifend geplant und begleitet werden sollte.
Wichtig für die gynäklogische Betreuung ist, Kontraindikationen bestimmter Psychopharmaka in der Schwangerschaft zu beachten. Unter der Therapie mit Tamoxifen beim Mammakarzinom können Wechselwirkungen einzelner Psychopharmaka zu einem Wirkungsverlust führen.
Menschen sind unterschiedlich veranlagt. Manchen gelingt es, schwere Schicksalsschläge zu meistern und psychisch gesund zu bleiben, andere dagegen verfallen in eine tiefe Krise, begleitet von Angst und Depression. Wie resilient ein Mensch ist, hängt von mehreren Faktoren ab. „Wir schätzen, dass höchstens 20 bis 30 Prozent der Resilienzfähigkeit genetische Veranlagung sind, eine weitaus größere Rolle spielen die Lern- und Bewältigungserfahrungen, die man in seinem Leben macht“, sagt Prof. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz sowie wissenschaftlicher Geschäftsführer des Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz.
Resilienzfähigkeit sei ein dynamischer Prozess; jeder kann mal mehr, mal weniger resilient sein. Man könne in jeder Phase des Lebens präventive Schritte für die psychische Gesundheit vornehmen. Der Resilienzforscher rät, zunächst einmal auf den Lebensstil zu achten: regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung, mäßig Alkohol, kein Nikotin. Einer der wichtigsten Faktoren sei ein gutes soziales Netzwerk, das in Krisen besonders an Bedeutung gewinnt. Und schlau sei es, aus der kleinen Krise für die große zu lernen – sich eine Art Handwerkskasten zu erarbeiten aus Dingen, die einem guttun und in Krisenzeiten unterstützen können. „Resilienz ist ein kostbares Gut, auf das man achtgeben muss“, meint Lieb.
Wichtig ist, normale Ängste von pathologischen Formen zu unterscheiden. Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit sind Ausnahmesituationen im Leben einer Frau, die neben Glücksgefühlen auch Ängste verursachen. In der regelmäßigen Schwangerschaftsbetreuung merkt man bei genauem Hinhören, wann berechtigte Sorgen zu ausufernden Ängsten werden, die über das Normale hinauswachsen. Dann wäre der Hinweis „Ich glaube, Sie brauchen Hilfe“ und eine fachübergreifende Beratung angebracht. Auch dann, wenn bei einer Krebserkrankungen depressiv gestimmte Ängstlichkeit die Überhand gewinnt und die Patientin sämtliche Hoffnung verliert. Die Weiterleitung an eine psychoonkologische Beratungsstelle mit Vermittlung einer individuellen Therapie kann entscheidend sein, um Lebenswillen und Optimismus zurückzugewinnen.
Für all das braucht die sprechende Medizin die Anerkennung, die ihr zusteht.
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