Selten ist nicht gleich selten: Jeder 400ste Deutsche stirbt an amyotropher Lateralsklerose. Drei Ansätze, um die Orphan Disease in Zukunft zu behandeln.
Spricht man von seltenen Krankheiten, ist die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) in einer vergleichsweise privilegierten Position: Spätestens seit der berühmten Ice Bucket Challenge ist die Motoneuronerkrankung den meisten ein Begriff. Diese ist ein Paradebeispiel dafür, was für einen Unterschied eine erfolgreiche Awareness-Kampagne machen kann. „Die Leute kennen die Erkrankung. Die Kassen verordnen Rollstühle leichter. Die Pflegestufen werden leichter angepasst, weil die Verantwortlichen die Erkrankung jetzt wirklich kennen und das ist gut für die Patienten“, erzählt Prof. Albert Ludolph, Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie der Universität Ulm und Leiter des dortigen Zentrums für Seltene Neurologische Erkrankungen.
Dass die Krankheit so bekannt ist, liegt aber nicht nur an erfolgreichen Kampagnen: Sie ist nicht so selten, wie man es bei einer Orphan Disease annehmen würde. „Es gibt zwar nur 8.000–9.000 Patienten in ganz Deutschland, aber 2.500–3.000 Neuerkrankte pro Jahr.“ Wegen des schnellen Verlaufs – durchschnittlich überleben Betroffene nur 3 bis 4 Jahre – gelte eine Sonderregelung, und die ALS trägt trotz vergleichsweise hoher Inzidenz den Orphan-Status. Aus den epidemiologischen Daten des ALS-Registers Schwaben ergebe sich: Jeder 400ste Deutsche stirbt an einer ALS. Im Interview mit der DocCheck News Redaktion erklärt Prof. Ludolph aktuelle und zukünftige Behandlungsansätze.
Bei der ALS gibt es vereinzelt Fälle familiärer Häufung und grundsätzlich liegt bei seltenen Krankheiten oft eine genetische Ursache zu Grunde. Wie sieht das bei ALS aus?
„Autosomal-dominante Erbgänge treten in Mitteleuropa bei fast genau 5 % der ALS-Patienten auf. Autosomal-dominant werden vor allem 4 Gene vererbt; das sind in Deutschland C9orf72, SOD-1, FUS und TDP-43. Von diesen 5 % macht C9orf72 25 % aus, SOD-1 13 % und die anderen beiden 4 %. Alles andere ist ein Sammelsurium von Genen. Wenn wir über autosomal-dominante Vererbung reden, dann haben wir aber noch nicht über rezessive Vererbung gesprochen. Hier weiß man offensichtlich nicht viel und es muss weitere Forschung durchgeführt werden. Man schätzt, dass genetische Faktoren ungefähr 60 % des Risikos ausmachen, eine ALS zu bekommen, und 40 % von im weitesten Sinne Umweltfaktoren stammen.“
Gibt es Risikofaktoren? Letztes Jahr haben Sie beispielsweise eine Arbeit zur Auswirkung von körperlicher Aktivität auf das ALS-Risiko veröffentlicht.
„Die Resonanz auf solche Arbeiten ist immer sehr groß, weil vor allen Dingen in Amerika die Krankheit sehr bekannt ist, weil häufiger Leistungssportler betroffen sind. […] Insgesamt haben unsere Untersuchungen gezeigt, dass dies aber nur bedingt der Fall ist. Es hat sich allerdings eine erstaunliche Parallele ergeben, dass es 5 bis 10 Jahre vor Ausbruch der Erkrankung nicht zur obligaten Zunahme des Körpergewichts während des Alterns kommt und dass die körperliche Aktivität abnimmt. Ob es einen Zusammenhang zwischen Athletik und ALS gibt wird weiterhin debattiert.“
Wie zeitkritisch ist die Diagnose und welche Möglichkeiten bietet es, wenn man die Krankheit früh erkennt?
„Im Prinzip kann man sagen, dass bei neurologischen Erkrankungen die Diagnose immer zeitkritisch ist, man kennt das vom Schlaganfall: „Time is brain“. Allerdings ist die Voraussetzung, dass man frühzeitig intervenieren kann – beim Schlaganfall die Lysetherapie. Bei der ALS ist das leider noch nicht der Fall, dass man sehr wirksame Therapien hat, die am Anfang der Erkrankung zuverlässig wirken.
Es gibt aber Hoffnungen im Bereich der sogenannten Antisense-Therapie, wo man toxische Gene mithilfe von Medikamenten manipuliert, die die Transkription von DNA zum Protein auf RNA-Ebene beeinflussen – das heißt, es wird weniger wirksam. Das ist die eine Option, die auch schon kurz bevorsteht. Die andere hat was mit dem zu tun, was ich vorhin gesagt habe: Erstaunlicherweise wissen wir heute, dass ALS-Patienten fünf bis zehn Jahre, bevor die Krankheit beginnt, katabol werden – das heißt, dazu tendieren, zumindest nicht mehr zuzunehmen oder sogar abzunehmen. Auch wenn das noch keiner gezeigt hat, kann man spekulieren, dass der Patient davon profitiert, wenn man diesen Effekt bekämpft.“
Moderate Bewegung könnte helfen, das Überleben von ALS-Patienten zu verlängern. Gibt es auch Interventionen, die das Gegenteil bewirken und den Krankheitsverlauf verschlimmern?
„Das ist nur teilweise bewiesen. Wenn man die Muskeln aber überanstrengt, dann treibt man sie, oder die versorgenden Nervenzellen, wahrscheinlich früher in den Tod. Am spektakulärsten hat man das bei Studien gesehen, bei denen man das Zwerchfell mit Elektroden stimuliert hat, damit – so die Annahme – die pulmonale Funktion länger erhalten bleibt. Es ist das Gegenteil passiert. Die Patienten sind ein bis anderthalb Jahre früher gestorben. Man hat die Studien dementsprechend abgebrochen. Also: Überanstrengung eines kranken Systems, das ist nicht gut. Dieses System zu trainieren, das raten wir unseren Patienten ab.“
Thema Medikamente: In der EU ist nur Riluzol zur Behandlung von ALS zugelassen; in den USA, Schweiz, und Japan auch Edaravon. Wo sind die Unterschiede zwischen den beiden Medikamenten?
„Riluzol war eine Antwort von französischen Kollegen auf die Forschung der 80er Jahre in der man postuliert hat, dass eine glutamaterge Überstimulation in der Motorik eine Teilursache der ALS sein könnte. Diese wollten das eigentlich widerlegen […], haben es aber überraschenderweise bestätigt. Da hat man das erste Mal gesehen, dass die Reduktion dieses Faktors tatsächlich einen positiven Effekt hatte.
Die Therapie hatte den Vorteil, dass sie kaum Nebenwirkungen hatte; den Nachteil, dass die Effekte limitiert waren. In der ersten Studie, die damals gemacht wurde, hat man sehr viele Schwerstkranke eingeschlossen mit einer durchschnittlichen verbleibenden Überlebenszeit von weniger als einem Jahr. Und bei diesen Patienten konnte man nur 3 bis 4 Monate plus an Lebenserwartung finden. Das hat ein bisschen zu Nihilismus geführt, aber auch zu Desinformation. Denn man muss ja sagen, dass man die Patienten auch vorher schon behandeln kann, und es ist wahrscheinlich, dass das dann besser wirkt. Und deswegen kommen wir hier auch noch einmal auf die vorherige Frage zurück: Hier ist eine frühe Diagnose mit großer Wahrscheinlichkeit sinnvoll.“
Und was hat es mit Edaravon auf sich?
„Edaravon ist umstritten. Es ist ein Antioxidans, und wirkt sozusagen gegen die Folgen einer Übererregung des Nervensystems. Das heißt, es werden freie Sauerstoffradikale gebildet, die nervenschädigend sind, und – vielleicht – durch Edaravon abgefangen werden. Die Zulassungsstudie hat aber nur für 10-15 % aller Patienten einen Effekt gezeigt […]. Darüber hinaus muss man diese Substanz lange infundieren; die Patienten müssen häufig ins Krankenhaus. Die Summe von all dem hat manche Zulassungsbehörden dazu gebracht, Edaravon nicht zuzulassen.
Die Frage ist nun, ob diese intravenöse Gabe wirklich notwendig ist. […] Wir sind jetzt so weit, dass Studien mit oralen Zubereitungsformen von Edaravon durchgeführt werden und damit wird meiner Ansicht nach die Geschichte von Edaravon neu geschrieben. Wenn das erfolgreich ist, wird es überall zugelassen werden. Wenn es nicht erfolgreich ist, dann wird die Substanz eine Episode in der Geschichte bleiben.“
Könnte also die Applikationsform den entscheidenden Unterschied machen? Würde die auch die Wirkung verändern oder geht es nur darum, den Aufwand für die Patienten zu verringern?
„[…] Es kommt darauf an, ob oral funktioniert. Was sind die Unterschiede? Natürlich die Bequemlichkeit für den Patienten und der Mangel an Nebenwirkungen auf die Venen, denn die i.v.-Gabe von Edaravon induziert häufig Venenreizungen, das kann sehr schmerzhaft sein. Aber auch: Man kann erwarten – intravenös kann man ja nicht immer geben –, dass wenn man Edaravon kontinuierlich gibt, es vielleicht doch einen besseren Effekt hat. Deswegen ist es schon ein Unterschied ob es kontinuierlich oral oder diskontinuierlich i.v. gegeben wird. Ich finde, dass diese Studien extrem notwendig sind und ich glaube, dass die EMA genau die gleiche Meinung vertritt.“
Was denken Sie, wie wird die Therapie in Zukunft aussehen?
„Ich sehe drei Ansätze, die von so hoher Erfolgswahrscheinlichkeit sind, dass man sie diskutieren sollte. Erstens, die genetische Therapie. Man kann heute Gene, die bei einer Erkrankung zu schwach exprimiert werden, in ihrer Wirkung verstärken. Das ist bei rezessiven Erkrankungen so. Über rezessive Erbmodi bei der ALS ist wenig bekannt, deswegen fällt das weg. Das ist aber ein Prinzip, das bei einer Motoneuronerkrankung des Kindesalters sehr gut funktioniert, nämlich der spinalen Muskelatrophie. Da mussten die Kinder früher sehr früh sterben, heute sind sie bald im Schulalter. Das gibt es seit 4, 5 Jahren und das ist unglaublich für jemanden, der das Feld schon lange kennt.
Bei der ALS hingegen kommt es mehr darauf an, sogenannte „Gain-of-function“-Mechanismen, das heißt toxische Effekte eines mutierten Gens, in ihrer Wirkung zu reduzieren. Da gibt es eine Studie, die leider nur einen Trend in die Richtung gegeben hat. Alle Werte zeigen zwar, dass die Patienten besser dran sind, aber weil es vermutlich eine zu kleine Fallzahl ist, gibt es keinen statistisch signifikanten Effekt. Das Medikament heißt Tofersen, und die Studie heißt VALOR. Das ist ein Antisense-Oligonukleotid gegen ein Gen, […] das in Deutschland für etwa 12 bis 13 Prozent aller familiären ALS-Fälle verantwortlich ist, die Superoxiddismutase (SOD). Man hat eine gute Chance, das so zu verbessern, dass auch hier eine frühe Diagnose sinnvoll ist und vielleicht sogar eine Prävention der Erkrankung bei asymptomatischen Genträgern denkbar wird.
Der zweite Vorschlag basiert auf Erkenntnissen von Prof. Heiko Braak. Vielleicht haben Sie schon einmal von den Braak-Stadien des Morbus Alzheimers und des Morbus Parkinson gehört. Ähnliches hat sich bei der ALS gezeigt. Im Prinzip hat er bei allen drei Erkrankungen gezeigt, dass sie nach vorgefertigten Mustern, anatomisch definiert, stereotyp, durchs Nervensystem wandern. […] Daraus folgt natürlich, dass dieses Propagationsprinzip, wenn man es molekular, mechanistisch versteht, auch unterbrechbar wird. Deswegen ist das ein wichtiger Ansatz.
Auch wichtig ist das Verständnis der präklinischen Phasen. Braak hat beim Parkinson und bei Alzheimer die präklinische Phase definiert. Bei der ALS ist das weniger klar, und daran wird gearbeitet. Das Verständnis der Bedingungen unter denen es zum Ausbruch der Erkrankung kommt, führt zur Prävention. Es gibt einige Studien in der Welt, eine von uns, die Folgendes gezeigt haben: Zwischen 20 und 60 nimmt der normale Mensch 15 Kilo dazu, zumindest in Schweden und Deutschland. Das ist bei der ALS nicht so. Diese Kurve flacht sich etwa 15 Jahre vor Ausbruch der ALS ab. Ich hatte das vorhin auch schon gesagt, Stichwort Katabolismus. Wenn man versteht, warum das so ist, und es eine Bedingung für die Entstehung der Erkrankung ist, dann hätte man einen Ansatz.“
Zuletzt noch eine Frage zu einem ungewöhnlichen Fall, die auf unserem Portal gestellt wurde. Im letzten Jahr wurde in einer Lokalzeitung in der Nähe von Tübingen über einen Fall einer spontanen ALS-Heilung berichtet. Haben Sie davon mitbekommen und ist an der Geschichte etwas dran?
„Ja, davon habe ich mitbekommen. Ich würde allerdings raten, die Diagnose von Fachleuten noch einmal überprüfen zu lassen, bevor voreilige Schlüsse gezogen werden.“
Möchten Sie anderen Ärzten zum Abschluss noch etwas mit auf den Weg geben?
„Dass man daran denkt, dass die ALS eben keine seltene Erkrankung ist; sie ist häufig, wenn man die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik ansieht, und es ist wichtig, dass man bei dieser Erkrankung nicht in Nihilismus verfällt. Es ist auch wichtig, dass man weiß, dass Patienten mit ALS nachdem sie am Anfang natürlich depressiv werden, und sich anpassen müssen, keineswegs eine solch schlechte Lebensqualität haben, wie das Gesunde denken. Sie haben eine viel bessere!“
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