Sonntagabend, die 14. Arbeitsstunde des Tages. Eigentlich hätte ich schon Feierabend, aber das Wartezimmer der Tierklinik ist brechend voll. Ich rufe meinen letzten Patienten herein – und ahne nicht, wie sehr er mich aufwühlen wird.
Diesen einen Patienten nehme ich noch, danach ist aber Schluss. In 15 Minuten sitze ich bestimmt schon auf meinem Fahrrad von der Tierklinik nach Hause – so versuche ich, nochmal meine Kräfte zu bündeln.
Diese Situation ist für die meisten meiner Kollegen sicher nicht unbekannt. Dennoch will ich euch kurz meine Geschichte erzählen. Denn sie zeigt nur allzu gut, welchem Druck wir uns tagtäglich stellen müssen und wie dünn unsere Nerven dann sind. Außerhalb unserer Berufsgruppe mögen das die wenigsten Leute wissen.
Ich fühle mich ausgelaugt. Die vergangene Arbeitswoche war wieder einmal anstrengend. Ich befinde mich inmitten eines 10-tägigen Schichtmarathons, bevor ich in meine Ausgleichstage starten darf. Die letzten 6 Tage hatten es in sich – dementsprechend müde fühle ich mich. Eigentlich hätte ich schon Feierabend, mein 12-Stunden-Dienst endete bereits um 19 Uhr. Jetzt ist es halb neun. Trotzdem habe ich mich entschlossen, noch ein weiteres Tier in mein Sprechzimmer zu rufen.
Ein junges Pärchen betritt mein Zimmer, im Schlepptau ihr 13 Jahre alter Mischlingshund. Er ist nicht mehr geh- und stehfähig. Die Augen sind trübe, das Hecheln erscheint schwer, die Schleimhäute sind blass und pappig. Frauchen und Herrchen rinnen die Tränen über die Wangen. Ich muss nicht lange nachfragen. Sie erzählten mir ihre Leidensgeschichte von ganz alleine.
Ihr treuer Begleiter hat schon seit 3 Jahren einen Tumor im Bauch, der von etlichen weiteren Wehwehchen begleitet wird. Seit einigen Wochen baut der Hund jedoch stetig ab und seit ein paar Tagen geht wohl gar nichts mehr. Seit heute kann er auch nicht mehr aufstehen. Die mobile Haustierärztin spritzte ihm morgens noch ein Schmerzmittel – aber auch das helfe nicht mehr. Sie wollen ihn nicht leiden lassen. Sie wissen, dass die Diagnose endgültig ist.
Nach kurzer klinischer Untersuchung und abschließendem Gespräch einigten wir uns gemeinsam darauf, den Hund in Würde sterben zu lassen. Ich bereite die Hundebesitzer auf diese angsteinflößende Situation vor. Ich erkläre ihnen Schritt für Schritt das Vorgehen – vom Setzen des Venenverweilkatheters bis zum letzten Herzschlag. Auch wenn ich müde, ausgelaugt und körperlich angeschlagen bin, versuche ich, mir stets so viel Zeit zu nehmen, dass die Besitzer auf ihre Weise von ihrem treuen Gefährten Abschied nehmen können. Ich sehe es schließlich als Privileg, einem leidenden Tier einen möglichst würdevollen Tod ermöglichen zu können.
Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich eine Euthanasie schon durchgeführt habe. Anfangs dachte ich, man gewöhnt sich daran und kommt mit der Situation immer besser klar. Jetzt weiß ich, dass das nicht der Fall ist. Der Ablauf ist zwar immer derselbe, die Situation aber nie gleich.
Nachdem der Venenverweilkatheter sitzt, macht man sich auf dem Weg zum Tresor und zieht das Medikament in die Spritze auf. Anschließend geht man wieder den selben Weg zurück, erklärt den Besitzern nochmals den Ablauf und schreitet dann zur Tat. Obwohl ich weiß, dass ich dem Tier in diesem Moment helfe, fühle ich mich dennoch auch schuldig. Schuldig, anderen Menschen durch mein Handeln ihr geliebtes Tier zu nehmen.
Die meisten Besitzer weinen in dieser Situation, so auch an diesem Tag. Ich versuche dann immer, einfühlsam und mitfühlend, aber auch in gewisser Weise distanziert zu sein. Es ist schwierig, das richtige Mittelmaß zu finden – man gibt sein Bestes.
Aber dieses Mal ist alles anders. Frauchen und Herrchen sind in meinem Alter. Sie wirken aufrichtig, lieben ihren Hund, der sie seit Jahren durch dick und dünn begleitet hat, über alles. Sie erzählen mir sozusagen mit einem weinenden und lachenden Auge, was für ein quirliger, aber auch einfühlsamer Hund er immer war. Und in diesem Moment kommt es über mich – und das nicht nur, weil ich auch an meinen Hund denken muss. Man fühlt mit, man fühlt den Schmerz und das Leid, das die Leute in dieser Situation durchleben.
Und da passiert es – in meinen Augenwinkeln sammeln sich Tränen, die auch dem Weg der Schwerkraft folgen. Ich versuche, mich natürlich zusammenzureißen, schließlich ist Professionalität gefragt. Aber aus unerklärlichen Gründen lässt es sich nicht mehr vermeiden und auch mir rinnen einige Tränen die Wange herunter, um kurz darauf unter der FFP2-Maske zu verschwinden.
Als Mann weint man nicht. Das sagt man zumindest immer. Im ersten Moment bin ich erschrocken und versuche, es irgendwie zu verstecken, aber das gelingt mir leider nicht. Rückwirkend war ich froh darüber, dass ich so reagiert habe. Dadurch konnte ich den Hundehaltern mein Mitgefühl zeigen. Sie haben sich verstanden gefühlt. Sie wussten dadurch, dass diese Situation für mich keineswegs einfach ist, was ihnen auf irgendeine Weise geholfen hat, den Moment etwas besser zu verarbeiten.
Sie bedankten sich bei mir für meine Hilfe, für mein Mitgefühl und meine Art. Sie zeigten mir, dass sie zwar gerade unendlich traurig sind, aber dass ich ihnen gleichzeitig auch ein wenig von diesem Schmerz nehmen konnte. Ich bin traurig, aber auch gleichzeitig glücklich, dass ich trotz meines langen Arbeitstages diese Erfahrung noch machen durfte.
Danach räume ich das Sprechzimmer auf, schalte das Licht aus, ziehe mich um und schwinge mich auf mein Fahrrad. Ein langer Tag geht zu Ende, aber die Erinnerungen bleiben. Noch heute muss ich oft an diese spezielle Situation denken, auch wenn ich zwischenzeitlich etliche weitere Euthanasien durchgeführt habe. Irgendwas war anders, aber ich weiß nicht, was. Dennoch bin ich froh und glücklich, meinen Beruf ausüben zu können. Auch wenn er nicht nur körperlich, sondern auch seelisch manchmal sehr belastend ist.
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