Eine Unterversorgung mit Thyroxin kann schwere Folgen für den gesamten Organismus haben. Warum die Untersuchung der Blutwerte oft zu kurz greift, erfahrt ihr hier.
Die Untersuchung der Schilddrüsenhormone ist in der ärztlichen Praxis eine wertvolle Standarddiagnostik. Anhand der Werte von Thyroxin (T4), Triiodthyronin (T3) und Thyrotropin (TSH) lässt sich gut überprüfen, ob die Schilddrüse korrekt arbeitet oder ob eine Hyper- oder Hypothyreose vorliegt. Die Thyroid-Hormone (TH) haben bekanntlich einen großen Einfluss auf den Organismus; ein Mangel oder Überschuss kann zu Kreislauf-, Stoffwechsel- und auch neurologischen Problemen führen.
Sind die Blutwerte im Normbereich, ist also alles in Butter – oder? Warum die Antwort auf diese Frage ist nicht so einfach ist, erklärte Prof. Dagmar Führer, Direktorin der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel der Uniklinik Essen, im Rahmen einer Pressekonferenz zur Jahrestagung 2022 der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Führer ist Sprecherin des interdisziplinären Sonderforschungsbereichs LOCOTACT, der sich mit Verständnis und Kontrolle der lokalen Wirkung von Schilddrüsenhormonen in verschiedenen Zielgeweben beschäftigt.
Die hormonelle Balance des Körpers kann nämlich auch bei normalen Blutwerten gestört sein. „Wir haben […] gelernt, dass Schilddrüsenhormone sehr spezifisch über organspezifische Regulationsmechanismen ihre Wirkung entfalten“, erläutert Führer. Es gebe dafür drei zentrale Bausteine: TH-Transporter, welche die Aufnahme in das Organgewebe steuern; Deiodasen, welche die Hormone aktivieren bzw. desaktivieren, und zuletzt TH-Rezeptoren. Diese sind sowohl innerhalb als auch außerhalb der Zellkerne lokalisiert und über sie entfalten die Schilddrüsenhormone ihre Wirkung. „Wenn einer dieser drei Bausteine verändert ist, verändert sich die Wirkung in einem Organ. Damit kann auch zu viel oder zu wenig Schilddrüsenhormonwirkung im Organ zustande kommen – unabhängig von dem, was wir eigentlich im Blut messen.“
Gelernt habe man dies aus seltenen Krankheiten; besonders das Allan-Herndon-Dudley-Syndrom sei für die Forschung wegweisend gewesen. Dabei handelt es sich um eine x-chromosomal-rezessive Erbkrankheit, die durch schwere neurologische Entwicklungsstörungen gekennzeichnet ist. Die Ursache der Krankheit: Eine Mutation des TH-Transportergens MCT8. Der bei dieser Krankheit inaktive, bzw. veränderte T3-Transporter sitzt an der Blut-Hirn-Schranke und damit an einer entscheidenden Schnittstelle für die Gehirnentwicklung. Gelange das Schilddrüsenhormon nicht in das Gehirn, komme es zu einer schweren Entwicklungsstörung, führt Führer aus.
Das Problem betrifft aber längst nicht nur seltene Erkrankungen: Auch Myokardinfarkte oder ein ischämischer Schlaganfall sind in der Lage, durch Änderungen im Deiodase-Haushalt die Metabolisierung von Schilddrüsenhormonen zu beeinträchtigen. Die Quintessenz sei, dass je nach Verteilung von Transportern, Rezeptoren und Enzymen sich manche Organe in einem Stadium der Unterfunktion befinden könnten, während andere in einem Stadium der normalen oder gar Überfunktion seien. Die Bedeutung dieser neuen organspezifischen Sichtweise im Vergleich zu der bisherigen globalen Sicht ist groß: „Wir haben hier ein Beispiel für einen Paradigmenwechsel in der Endokrinologie“, so Führer.
Komplett verstanden ist die lokalisierte Kontrolle der TH-Wirkung noch lange nicht; mehr Forschung ist nötig. Durch Verständnis und Modulation könnten sich aber neue Behandlungsmöglichkeiten ergeben. Führer: „Wir hoffen, dadurch langfristig neue Therapieansätze für seltene Erkrankungen, aber auch Volkskrankheiten wie die nicht-alkoholische Fettleber, Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erreichen.“ Neben gentherapeutischen Ansätzen kämen auch pharmakologische Werkzeuge wie Deiodase-Inhibitoren oder TH-Rezeptoranaloga in Frage. Eine weitere Möglichkeit wären sogenannte „Trojanische Pferde“ – chimäre Moleküle zusammengesetzt aus Schilddrüsen- und anderen Hormonen. Anstelle der bisherigen globalen Gabe von Thyroxin per Tablette, könnten diese Transporter Schilddrüsenhormone gezielt an diejenigen Stellen im Körper bringen, wo sie tatsächlich vermehrt gebraucht werden.
Wenn die einfachen TH-Blutwerte also nicht zur Bestimmung der Hormonwirkung ausreichen, woran lässt sich dann diagnostisch festmachen, ob Leber, Herz und Hirn versorgt sind? Die Forscher von LOCOTACT sind organspezifischen Markern bereits auf der Spur. Ein guter Parameter zur Untersuchung der Leberwirkung sei beispielsweise der Lipidstoffwechsel. „Das klassische Cholesterin ist ein super Marker für die TH-Wirkung in der Leber“, sagt Führer. Für die kardiale und neuronale Wirkung müsse man sich bislang aber auf funktionelle Marker wie Tachykardie und Kognitionseinschränkungen stützen.
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