Ein Locked-In-Patient kann sich mithilfe eines Hirnimplantats wieder der Welt mitteilen. Wie das gelang und was der Patient zu sagen hat, lest ihr hier.
Bei Patienten, die an amyotropher Lateralsklerose (ALS) leiden, verlieren die Motoneuronen langsam aber sicher ihre Funktion. Irgendwann können die Patienten nur noch per Augenbewegungen kommunizieren – Stephen Hawking ist wohl das berühmteste Beispiel dafür.
Doch wenn selbst die Augen paralysiert sind, können sich die Patienten überhaupt nicht mehr mitteilen, obwohl sie bei vollem Bewusstsein sind. In diesem Zustand, auch als Complete Locked In Syndrome (CLIS) bekannt, befindet sich auch der heute 36-jährige Mann, um den es hier geht: Mithilfe eines Hirnimplantats ist es Ärzten gelungen, ihn aus seinem isolierten Zustand zu befreien – zumindest was die Kommunikation mit der Außenwelt angeht. Den Fall haben die Forscher jetzt in Nature Communications geschildert.
Ein Forschungsteam der Universität Tübingen begann die Zusammenarbeit mit dem ALS-Patienten bereits zu einem Zeitpunkt als er seine Augen noch bewegen konnte. So teilte er dem Team mit, dass er ein invasives Implantat wünscht, um die Kommunikation mit seiner Familie aufrechtzuerhalten.
Anschließend wurden ihm zwei Hirnimplantate in den motorischen Kortex eingesetzt. Jedes Implantat hat 64 nadelförmige Elektroden, die neuronale Signale erfassen können. Für die Übersetzung der Hirnströme in Buchstaben musste sich der Mann ein Neurofeedback-Konzept antrainieren. Das funktionierte so: Auch wenn der Patient seine Muskeln nicht mehr bewegen kann, so lassen sich dennoch die feuernden Neuronen in den Hirnstromkurven nachweisen, sobald er sich Bewegungen willentlich vorstellt.
Spielten die Mediziner ihm einen hohen Ton vor, sollte sich der Mann eine bestimmte Bewegung vorstellen – ein Computer übersetzte diese spezifischen Hirnströme dann in „Ja“. Hörte der Patient einen niedrigen Ton, sollte er eine andere Bewegung simulieren, was der Computer als „Nein“ übersetzte. Die Genauigkeit der Hirnwellenmuster und Ja/Nein-Antworten lag bei 80 Prozent. Ein Buchstabierprogramm las ihm anschließend die Buchstaben des Alphabets laut vor und der Mann wählte mit Hilfe seiner Hirnströme bestimmte Buchstaben aus.
Das „Sprechen“ ist allerdings im Vergleich zu anderen Methoden – etwa jenen, die Augenbewegungen messen – viel langsamer. Der Patient kann etwa einen Buchstaben pro Minute aufsagen. Bis der Patient ganze Sätze sprechen konnte, vergingen Monate. So sagte er an Tag 107 nach Einsetzen des Implantats: „erst mal moechte ich mich niels und seine birbaumer bedanken“.
Niels Birbaumer ist Mitautor der Studie und forscht schon lange zum Thema Gehirn-Computer-Schnittstelle. Der Hirnforscher ist allerdings auch umstritten – die deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte ihm im Jahr 2019 „wissenschaftliches Fehlverhalten“ attestiert und ihn für fünf Jahre von Antragsberechtigungen und Gutachtertätigkeiten ausgeschlossen. Unter anderem wird ihm selektive Datenauswertung und mögliche fehlerhafte Analyse vorgeworfen – auch bezüglich vergangener Studien an CLIS-Patienten. Birbaumer kümmert das nicht; er steht weiterhin zu seiner Forschung.
Wenn man der aktuellen Veröffentlichung Glauben schenken darf, dann hatte der Patient neben der Dankesworte an die Forscher noch viel mehr zu sagen: Viele der Mitteilungen betrafen seine Pflege. So wünschte er sich an Tag 251: „erstmal kopfteil viel viel hoeh ab jetzt imm“; an Tag 254: „an alle muessen mir viel oefter gel augengel“. Aber der Patient nahm auch an sozialen Interaktionen teil und fragte nach Unterhaltung. Mehrfach äußerte er den Wunsch, Musik seiner Lieblingsband „Tool“ zu hören: „wili ch tool balbum mal laut hoerenzn“ oder ein Bier zu trinken: „und jetwzt ein bier“. An seinen vierjährigen Sohn gerichtet sagte er: „ich liebe meinen coolen (Name des Sohns)“.
Ob sich die Technik auch bei anderen Patienten einsetzen lässt, ist aber noch unklar. Von klinischer Routine ist man hier noch weit entfernt.
Bildquelle: Brad, Unsplash