Die neue DGN-Leitlinie zum ischämischen Schlaganfall ist noch kein Jahr alt und schon könnte eine Umschreibung anstehen: Tenecteplase soll das Behandlungsfenster verdoppeln. Ein Blick auf die Details.
Es ist gerade einmal 10 Monate her, dass die DGN ihre aktualisierte S2-Leitlinie des ischämischen Schlaganfalls veröffentlicht hat. Doch liest man die aktuellen Studien, scheint jetzt bereits eine baldige Überarbeitung der Leitlinie erforderlich zu sein.
Nicht nur, dass aktuell mehrere Studien Tenecteplase – ein bereits seit 20 Jahren gut etabliertes Thrombolytikum im Bereich des akuten Myokardinfarkts – der in der Neurologie allseits bekannten Alteplase als überlegen gegenüberstellen. Die neuesten Studienergebnisse rütteln auch am 4,5-Stunden-Zeitfenster der systemischen Thrombolysetherapie. Wird mit Tenecteplase nun das Dogma des etablierten Zeitfensters aufgebrochen?
Die aktuelle Leitlinie empfiehlt bereits die Anwendung eines erweiterten Schädel-CTs mit Perfusionsmessung zur Identifizierung von Infarktkern und Penumbra, um noch rettbares Hirngewebe identifizieren zu können. Hierdurch kann das Thrombolyse-Zeitfenster auf bis zu etwa 9 Stunden erweitert werden. Bedenkt man, dass Patienten häufig erst viele Stunden bis Tage nach Symptombeginn vorgestellt werden, bleiben die Therapiemöglichkeiten trotzdem oftmals auf Sekundärprophylaxe begrenzt – getreu dem Motto „ASSen und ASSen lassen“.
Dieses Problem könnte schon bald gelöst werden; zumindest teilweise. Hierauf deuten Studienergebnisse eines chinesischen Forscherteams hin, das seine Ergebnisse auf der aktuellen International Stroke Conference (ISC) im Februar 2022 vorgestellt hatte. In der Studie wurden insgesamt 86 Patienten untersucht, deren Schlaganfallsymptome mehr als 4,5 Stunden, aber unter 24 Stunden anhielten. Bei allen Patienten wurde eine erweiterte CT-Bildgebung mit CTA und Perfusionsmessung durchgeführt. Nur Patienten, die einen Gefäßverschluss in der CTA und gleichzeitig ein relevantes Infarktkern-Penumbra-Mismatch aufwiesen, wurden in die Studie eingeschlossen. Eine Hälfte erhielt Tenecteplase in höherer, die andere Hälfte in niedriger Dosierung. Bei einem Teil der Patienten wurde zudem eine ergänzende mechanische Thrombektomie durchgeführt.
Studienendpunkte waren eine Wiederherstellung der Hirnperfusion ohne das Auftreten einer symptomatischen intrakraniellen Blutung, was rund 30 % der Studienpatienten erreichten. Das gelang etwas häufiger in der Gruppe, die die niedrigere Dosierung erhielt, wohingegen das neurologische Outcome in dieser Gruppe etwas schlechter ausfiel. Nach 90 Tagen wiesen knapp 40 % der behandelten Patienten keine relevanten Beeinträchtigungen auf und etwa 50 % wiesen leichte Beeinträchtigungen auf. Eine symptomatische Hirnblutung trat in etwa 10 % der Fälle auf. Das Outcome der Patienten, bei denen zusätzlich eine mechanische Thrombektomie durchgeführt wurde, war insgesamt schlechter und die Blutungsrate lag höher als bei den Patienten, die lediglich mit Tenecteplase behandelt wurden.
Insgesamt deuten die Studienergebnisse darauf hin, dass die systemische Thrombolysetherapie mit Tenecteplase bis zu 24 Stunden nach Symptombeginn eine sichere Therapieoption ist. Der Studie fehlt es jedoch an einer Kontrollgruppe und auch die Anzahl der untersuchten Patienten ist gering. Es ist also unmöglich zu sagen, wie viele der behandelten Patienten auch ohne Behandlung ein gutes Outcome erreicht hätten. Zudem wurden nur chinesische Patienten untersucht, welche häufig andere Schlaganfallursachen aufweisen als europäische Patienten. Fraglich ist auch, ob eine Lysetherapie mit der in Deutschland etablierten Alteplase ähnlich gute Ergebnisse im erweiterten Zeitfenster erbracht hätte.
Somit sind die Studienergebnisse nicht einfach auf unsere Krankenhäuser und Patientenkollektive übertragbar. Weitere Studien sind notwendig, bevor wir auch bei uns das Zeitfenster erweitern und die Leitlinie umschreiben können.
Bildquelle: Paula Borowska, unsplash.