Therapieplätze sind ein rares Gut – erst recht in Zeiten von Corona. Ein leicht zugängliches Angebot könnte Psychotherapeuten unterstützen.
Langfristig gehören psychosoziale Probleme wie Angststörungen, Depressionen und psychologische Traumata sicher zu den gravierendsten und weitreichendsten Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Das hat viele Gründe, darunter soziale Isolation, Angst vor Ansteckung, Verlust von nahestehenden Personen – entweder erlebt oder befürchtet. Die gesellschaftliche Ausnahmesituation hat Spuren hinterlassen.
Das Problem: Kassenplätze für ambulante therapeutische Betreuung waren schon vorher knapp – der steigende Bedarf der vergangenen Jahre und auch der Krieg in der Ukraine verschlimmern die Situation zusätzlich. Daher ist die Etablierung einer Therapieform erforderlich, die sowohl mit Blick auf künftige Pandemien, als auch angesichts fehlender Plätze funktioniert.
Im Jahr 2020 litten über 30 % der Bevölkerung an Depression, Angstzuständen, Stress oder Schlaflosigkeit. Das Therapiesystem kann die starke Zunahme an Personen, die psychologische Betreuungen brauchen, nicht stemmen. Internetbasierte Interventionen und therapeutische Angebote können eine zugängliche und günstige Alternative zur klassischen Psychotherapie sein, um diese Menge an Patienten schnell und umfassend zu betreuen. Eine Intervention kann beispielsweise über webbasierte Plattformen, Apps, VR oder Games stattfinden – so eine Studie der Universität Mailand.
Die empirische Forschung zu technologiegestützten psychologischen Behandlungen ist allerdings begrenzt. Einerseits ist die Online-Therapie ein verhältnismäßig neuer Bereich und in den letzten Jahren exponentiell gewachsen; es gibt viel zu untersuchen. Andererseits ist die Datenerhebung schwierig. Eine qualitative Studie zu Erfahrungen von Therapeuten mit Online-Therapien deutet aber darauf hin, dass sie positiv gegenüber dieser Form der Betreuung eingestellt sind. Alle Therapeuten, die an der Studie teilnahmen, gaben an, dass die Arbeit in der Online-Therapie ihre Beratungsfähigkeiten und -praxis verbesserte.
„Es ging darum, diese besondere Art des Zuhörens zu entwickeln, um die Nuancen in der Stimme des Patienten zu erkennen, die Pausen, das, was tatsächlich hinter dem steckt, was er sagt“, so beschreibt eine Teilnehmerin den Online-Patientenkontakt. Eine weitere Teilnehmerin ergänzt: „Man achtet auf die Veränderung des Tons, man achtet auf die Stille, man wird sich plötzlich der Hintergrundgeräusche bewusst. Wenn man die Stimme der Person erst einmal kennt, kann man sagen, ob sie zittert, ob sie sich zurückhält oder ob sie wütend wird. Man fängt an, das alles aufzunehmen und man beginnt, sich wirklich mit der Stimme zu verbinden, mit der Person hinter der Stimme am anderen Ende der Leitung.“
Gerade junge Menschen sprechen besonders gut auf online-basierte Therapieformen an. Wahrscheinlich auch, weil sie mit dem Grundgerüst der Technologie vertraut sind; für sie ist diese Art der Kommunikation nicht neu. Durch ein gut ausgearbeitetes Online-Angebot könnten junge Patienten schneller und zuverlässiger einen Therapieplatz finden.
Wie vor allem junge Menschen von einer Online-Therapie profitieren können, zeigt eine kleine Studie des University College London. Untersucht wurden die Techniken, die in Chatsitzungen in einem internetgestützten Psychotherapie-Programm für depressive Jugendliche eingesetzt werden. Die Probanden, 23 Jugendliche mit Kriterien einer Depression, nahmen eine 10-wöchige Online-Therapie in Anspruch. Die Therapie bestand aus Texten, Videos, Übungen sowie einer wöchentlichen textbasierten Chatsitzung mit einem therapeutischen Betreuer. Das Ergebnis: Sowohl allgemeine Maßnahmen als auch psychodynamische Ansätze zeigten eine Verbesserung der Depressionssymptome in den folgenden Wochen. Kognitive Techniken zeigten hingegen keine Verbesserung der Depression.
Auch durch den globalen Lockdown wurde und wird das Leben digitaler. In Zeiten der Pandemie sind Abstandsregeln, Quarantäne und gesundheitliches Risiko zusätzliche Argumente für die Online-Therapie. Studien scheinen zu bestätigen: Die Zukunft der psychischen Gesundheit ist digital. Die COVID-19-Pandemie war ein Katalysator für Lösungsansätze rund um Online-Therapien und hat sowohl die therapeutischen Methoden, als auch die Einstellung gegenüber digitaler Angebote beeinflusst und verändert.
Dass das nicht immer ganz stolperfrei abläuft, ist klar. Eine Teilnehmerin der bereits erwähnten Studie zu Erfahrungen von Therapeuten mit Online-Therapien sagt dazu: „Es geht einfach darum, mit den zur Verfügung stehenden Werkzeugen praktisch zu arbeiten.“ Das Fachpersonal wird vertrauter mit dem Umgang telemedizinischer Tools und findet Kommunikationsmethoden, die online funktionieren.
Aktuell wird auch in Deutschland an der Psychologischen Hochschule Berlin zu dem Thema geforscht. Das Forschungsobjekt heißt „Toni“ und ist ein browserbasiertes Programm, das Psychotherapeuten den flexiblen Einsatz von Online-Modulen in der ambulanten Psychotherapie ermöglicht – unabhängig von der Diagnose. Außerdem können Patienten digitale Tools zur Selbstbeobachtung nutzen.
Obwohl die Online-Therapie für eine Vielzahl von Erkrankungen und komplexen Situationen nützlich sein kann, ist sie nicht die beste Option, wenn es um Erkrankungen geht, die enge und direkte Behandlung oder persönliches Eingreifen erfordern. Allerdings zeigt sich, dass besonders affektive Störungen, Süchte, Essstörungen und Angststörungen virtuell gut behandelbar sind. Die Therapiemethoden bleiben dabei im Vergleich zur etablierten Praxis relativ unverändert. Die größten Vorteil bietet die Online-Therapie den Patienten – auch unabhängig von der Pandemie.
Es beginnt schon bei der niedrigeren Hemmschwelle. Denn man kann nicht ohne Weiteres von anderen gesehen werden, wenn man den Therapeuten aufsucht – eine große Angst vieler potenzieller Patienten. Einige Krankheitsbilder machen es schwer, das Haus zu verlassen, sich auf einen neuen sozialen Kontakt einzulassen oder Termine einzuhalten. Die Online-Umgebung schafft auch hier Abhilfe. Minderjährige Patienten müssen nicht von den Erziehungsberechtigten zur Therapie gebracht werden – und können sie somit einfacher und privater in Anspruch nehmen. Das ist besonders wichtig, zumal Erziehungsberechtigte selbst durchaus Auslöser der behandelten Krankheitsbilder sein können. Besonders in ländlichen Regionen spielen die Fahrtzeit und die Notwenigkeit eines Autos bei Online-Therapien keine Rolle. Davon profitieren Jugendliche und ältere, weniger mobile Personen gleichermaßen.
Online-Psychotherapie kann so variabel und flexibel sein, wie der Patient sie braucht und „umfasst das gesamte Spektrum der Patientenbetreuung – von der Beurteilung und Diagnose über pharmakologische und psychosoziale Interventionen bis hin zur Nachsorge und häuslichen Pflege“, so eine Studie zum Nutzen der Telepsychiatrie des Institute of Medical Education and Research in Indien.
Noch immer kämpft die traditionelle Psychotherapie mit Vorurteilen und die Angst vor Stigmatisierung hemmt einige Patienten bei der Entscheidung, eine Therapie zu beginnen. Auch der digitalen Therapie wird mit Skepsis begegnet. Empathie sei nicht umzusetzen und es wäre kein Ersatz für Gespräche von Angesicht und Angesicht, da die wichtigen Aspekte Gestik und Mimik – und im Schriftlichen auch Tonalität – verloren gingen, so die beharrlichen Vorbehalte gegenüber entsprechenden Angeboten. Es wird auch angezweifelt, ob eine ausreichende Beziehung zu den Patienten aufgebaut werden kann. „Der Therapeut hat durch die Kamera einen eingeschränkteren Blick auf den Klienten, was bedeutet, dass er nur eine begrenzte Anzahl von nonverbalen Signalen zur Verfügung hat und die gefühlte Energie im Raum verloren geht“, sagt Dr. Louis Hoffman, Direktor der Rocky Mountain Humanistic Counseling and Psychological Association.
Die Arbeit mit Klienten in ihrem gewohntem Lebensumfeld verändert also den therapeutischen Prozess – aber das hat auch Vorteile. Der Fokus geht weg von der Patientenanalyse und integriert dafür die Umgebung. „Wenn es Hintergrundgeräusche gibt oder wenn jemand hereinkommt, sieht man die Wirkung, die das auf die Patienten hat; und das zeigt einem dann ein anderes Element ihrer Beziehungen. […] Es ist also etwas sehr Frisches und Unverfälschtes, Lebendiges, das man in eine Sitzung einbringen kann“, erklärt eine Therapeutin, die an der oben erwähnten Studie zur Erfahrung bei Online-Therapien teilnahm.
Weitere Hürden sind technische Schwierigkeiten, die Überschreitung persönlicher Grenzen – wie beispielsweise die Kontaktaufnahme mit dem Therapeuten auch zwischen den Sitzungen – und Probleme, was die Wahrung der Privatsphäre angeht. Das zeigt eine Analyse zum Beziehungsaufbau in Video-Therapie-Sessions. Eine Reihe dieser Phänomene kann auf die Online-Umgebung zurückgeführt werden; andere sind auch bei persönlichen Sitzungen zu beobachten.
Nach derzeitigem Stand könnte die Online-Psychotherapie vielmehr als Ergänzung, statt als Ersatz zur Therapie vor Ort Anwendung finden. Es braucht jedenfalls weitere Studien, um das Potenzial von Online-Therapieangeboten, deren Vorteilen und Problemen sowie die Besonderheiten der computervermittelten Kommunikation gesamtheitlich erfassen zu können.
Das größte Plus der Online-Therapie ist mit Sicherheit ihre leichte Erreichbarkeit. Denkt man an all die schlecht angebundenen Gegenden dieser Welt, kann ein signifikanter Bevölkerungsanteil aus Infrastruktur-Gründen keine Therapie in Anspruch nehmen. Wenn der Zugang zu Psychotherapien allgegenwärtig ist, wirkt sich das auch positiv auf das immer noch anhaltende Stigma gegenüber therapeutischen Behandlungen aus – seien sie nun online oder analog.
Bildquelle: Hannah Wei, unsplash