Eine kleine Neuro-Fallstudie: Keiner meiner Patienten ist so alt wie Frau L. – mit der ich an einem Montagmorgen auf ihren 100. Geburtstag anstieß. Sie ist das lebende Beispiel für alles, was gesundes Altern ausmacht.
Am Montag, den 14. Februar 2022, habe ich mit Frau L. auf ihren 100. Geburtstag mit einem Glas Sekt angestoßen, weil ich der Meinung bin, dass man bei 100 auch mal während der Arbeitszeit ein Gläschen zu sich nehmen kann. Frau L. ist derzeit meine einzige Patientin, die dieses biblische Alter erreicht hat; insofern besteht aktuell auch noch nicht die Gefahr, dass ich diesen Umstand zum Anlass nehmen könnte, ab sofort die wiederkehrende, allmontägliche Wurstigkeit mit einem prickelnden Gläschen zu behandeln, so wie beim Ladies Morning im Tennisclub.
Es könnte aber dazu kommen, die atemberaubende Zahlenentwicklung bei den Zentenaren betrachtend. Einige Tage zuvor hatte Frau L., zusammen mit ihrer 79-jährigen Nichte – sie ist die einzige noch lebende Verwandte; der Ehemann der Patientin ist vor ca. 30 Jahren verstorben und sie war kinderlos – und deren 82-jährigem Ehemann, ihren 100-jährigen Geburtstag in üblich kleiner Runde mit einem gemütlichen Kaffeetrinken begangen. Von diesen beiden wurde sie – so wie immer – auch jetzt wieder begleitet.
Ich kenne Frau L. seit ihrem jugendlichen Alter von 90, wie wir immer zu scherzen pflegen. Zu Scherzen ist Frau L. übrigens fast immer aufgelegt. Sie hatte ca. 2 Jahre zuvor ihren ersten tonisch-klonischen Anfall mit unklarem Beginn erlitten, wie man nach neuer Klassifikation der Internationalen Liga gegen Epilepsie korrekt sagen würde. Wahrscheinlich ein fokal zu bilateral tonisch-klonischer Anfall oder fokaler, sekundär generalisierter Anfall nach älterer Klassifikation. Als Ursache werden üblicherweise im höheren Alter kleine vaskuläre Läsionen diskutiert. Sie wurde zu diesem Zeitpunkt mit 1.500 mg Gabapentin (600–300–600 mg) behandelt. Im Rahmen eines Hüftgelenkersatzes nach 17 Jahren aufgrund von Verschleiß (sic!) wurde aus nicht mehr ganz nachvollziehbaren Gründen das Antiepileptikum weggelassen und es gab den 2. Anfall. Daraufhin kam Frau L. zu mir und ich begann wiederum mit Gabapentin, jetzt 3 mal 600 mg, das offensichtlich gut gewirkt hatte und das im höheren Alter sehr gut verträglich und häufig auch gut wirksam ist. Seitdem ist die Patientin anfallsfrei und toleriert das Medikament exzellent, so dass ich auch keinen Anlass für ein Absetzen gesehen habe, insbesondere wegen der mit einem Anfall einhergehenden Sturzgefahr und allen damit verbundenen, potentiell schwerwiegenden Konsequenzen.
Aber es soll in diesem Artikel ja nicht um die Behandlung epileptischer Anfälle gehen. Relevante Vorerkrankungen liegen bei der Patientin nicht vor; sie ist normalgewichtig, auch immer gewesen, erhält seit ungefähr 6 Jahren ein Antihypertensivum sowie ASS 100. Seit 1,5 Jahren nutzt sie wegen zunehmender ungerichteter Gangunsicherheit einen Rollator, mit dem sie fast täglich ein bis eineinhalb Stunden außerhalb ihrer Wohnung unterwegs ist. Ihre kognitiven Fähigkeiten haben sich innerhalb der letzten 10 Jahre nicht merklich verschlechtert. Vor Corona ist sie wöchentlich zweimal in die Muckibude (ihre eigenen Worte) um die Ecke gegangen, um dort kleine Gewichte zu stemmen und u. a. Fahrrad zu fahren.
Was das Scherzen anbelangt, so holte sie beim 2. Besuch ein Einmachglas aus ihrer Handtasche, stellte es kichernd auf meinen Schreibtisch und klimperte mit den Teilen des alten Hüftgelenks. „Hört sich gut an, Herr Doktor, oder?“ Bis in ihre 90ziger hinein hat sie eigenständig historische Stadtteilführungen in Lichterfelde West, einem Stadtteil von Berlin, wo sie seit mehr als 50 Jahren wohnt, durchgeführt. Als legendär empfinde ich auch ihre Aussage bei einem Besuch in der Praxis, sie fürchte, sie werde alt, denn sie habe bei einer der letzten Führungen plötzlich und aus unerfindlichen Gründen kurz, aber merkbar den Faden verloren. Was ich mit den Worten quittierte, dass ich das in der Tat für ein schwerwiegendes Problem hielte. Wir haben herzhaft gelacht.
Zu Herzen gehend fand ich auch ihre Aussage, dass sie in lauen Sommernächten so gern bei geöffnetem Fenster im Bett liege und den Geräuschen draußen lausche. Das habe so eine wohltuende und beruhigende Wirkung und es ließe sich so herrlich darüber einschlafen.
Warum erzähle ich das alles? Ich glaube, dass man in meiner Patientin viele Merkmale wiederfindet, die rüstige Hochbetagte auszeichnen. Eine der ersten systematischen Studien in Deutschland hierzu wurde von Franke und Mitarbeitern an der Universität Würzburg durchgeführt (Franke et al. (1970). Studien an 148 Hundertjährigen). Interessant sind allein die Zahlen: 1963 gab es, bezogen auf 57,25 Mio. Einwohner in der BRD, laut Statistischem Bundesamt in Wiesbaden insgesamt 429 100-Jährige, davon 329 Frauen und 100 Männer. 1968 waren es insgesamt 656 100-Jährige. Im Jahr 2020 gab es laut Statistischem Bundesamt in Gesamtdeutschland 20.465 Hundertjährige, Verhältnis Frauen zu Männern ungefähr 4 zu 1.
Eine interessante Betrachtung stellt Perutz (1997) an, basierend auf Aufzeichnungen über den Umstand, dass die britische Königin ihren Untertanen im Commonwealth traditionell zum 100. Geburtstag bzw. zum 60. Hochzeitstag (diamantene Hochzeit, Diamond Wedding) gratuliert. Die Daten zeigen, dass die Zahl der 100-Jährigen seit ca. 1946 exponentiell ansteigt, mit einer Verdopplungsrate alle 11 Jahre. Das korrespondiert u. a. sehr gut mit kontinuierlich steigenden Gehältern seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Perutz bringt steigende Gehälter in einen direkten Zusammenhang mit einer besseren Versorgung während der ersten Kinderjahre, was mit Langlebigkeit korrespondiere. Ab den 40ziger Jahren des 20. Jahrhunderts habe sich dann wesentlich zusätzlich die bessere Infektbehandlung im höheren Alter durch Antibiose bemerkbar gemacht.
Unabhängig von diesen Faktoren spielen allgemein genetische Faktoren bei Langlebigkeit eine wesentliche Rolle. Bereits die Erhebung von Franke et al. (1970) zeigt, dass in den Familien der Zentenare eine überdurchschnittliche Lebenserwartung bestand. Mittlerweile gibt es hierzu eine Vielzahl spezifischer genetischer Untersuchungen, die bestimmte Langlebigkeitsgene postulieren.
Zu den nicht genetischen Faktoren möchte ich an dieser Stelle erneut Franke et al. (1970) zitieren, wo es heißt: „3. Auf die Frage, welche äußeren Faktoren dazu beigetragen haben, ein derart hohes Lebensalter zu erreichen, haben wir recht unterschiedliche Antworten erhalten: Die meisten wiesen darauf hin, dass sie zeit ihres Lebens in allen Dingen Maß gehalten hätten, sich einer bescheidenen, soliden und geregelten Lebensweise befleißigt und speziell im Essen und Trinken zurückgehalten hätten. Manche bekräftigten, dass sie ein arbeitsreiches und auch mühevolles Leben hinter sich gebracht hätten, jedoch ohne ständige Überlastung und mit notwendigen Erholungspausen. Andere waren zeit ihres Lebens gute Wanderer und Turner. Eine Hundertjährige versichert, sie verdanke ihr hohes Lebensalter der Tatsache, das sie nie irgendwelche Spritzen oder Medikamente erhalten habe.“
Meiner Meinung steckt in diesem Kapitel das Allermeiste, was auch aktuell im Zusammenhang mit gesundem Altern und Langlebigkeit diskutiert wird, natürlich – wie immer – auch eine fälschlich angenommene Richtung von Ursache und Wirkung, wie man trefflich am letzten Satz des Zitates erkennen kann. Und natürlich auch die Frage, ob Persönlichkeitsmerkmale wie die des Maß-Haltens nicht letztlich auch direkter Ausdruck einer Art genetischen Langlebigkeits-Make-ups sind. Von den Faktoren des Fünf-Faktoren-Modells der Gesamtpersönlichkeit (Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit) ist interessanterweise Gewissenhaftigkeit (engl.: Conscientiousness) der beste Prädiktor für ein langes Leben (Friedmann et al. 1993).
Zum Gesundheitszustand der 100-Jährigen gibt die 2. Heidelberger Hundertjährigen-Studie Auskunft (Jopp, Boerner & Rott 2016), mit 100 weiblichen und 12 männlichen Teilnehmern. Diese litten im Durchschnitt an 5 akuten oder chronischen Erkrankungen. Am häufigsten anzutreffen waren Beeinträchtigungen des Sehens bzw. Hörens, Mobilitätseinschränkungen – 70% der Teilnehmer berichteten über mindestens einen Sturz seit dem 95. Lebensjahr – und muskuloskelettale Erkrankungen. Schlaganfälle und Krebs, also Krankheiten mit hohem Sterblichkeitsrisiko, waren selten. Demenz bestand bei etwa einem Drittel der Erkrankten. Legt man diese Erhebung zugrunde, dann gehört meine Patientin definitiv zu den fittesten Hundertjährigen. Mögen ihr noch viele schöne Jahre beschieden sein!
Quellen:
Franke et al. (1970). Studien an 148 Hundertjährigen. Dtsch. Med. Wochenschr.; 95: 1590–94.
Friedman HS et al. (1993). Does childhood personality predict longevity? J. Personal. Soc. Psychol.; 65: 176–85.
Perutz MF (1997). Long live the Queen's subjects. Philos. Trans. R. Soc. Lond. B. Biol. Sci.; 352: 1919–20.
Jopp DS, Boerner K, Rott C (2016). Health and disease at age 100—findings from the Second Heidelberg Centenarian Study. Dtsch. Arztebl. Int.; 113: 203–10.
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