ORPHAN-KLARTEXT | Ist es wirklich eine somatische Krankheit oder ist die Psyche schuld? Und was ist von der Umsatzgrenze für Orphan Drugs zu halten? Ärzte stellen Fragen, hier gibt's die Antworten.
Die aktuelle digitale Sprechstunde von DocCheck Experts drehte sich rund um das Thema Orphan Diseases. Unsere Sprechstunde mit der Expertin fand auch diesmal wieder als Live-Stream via Zoom statt. Moderiert wurde das Ganze von unserem Medical Content Manager Mats Klas, der eure Fragen ganz einfach an unsere Expertin Dr. Christine Mundlos gestellt hat. Sie ist stellvertretende Geschäftsführerin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE). Den ersten Teil unserer Reihe, in dem es allgemein um Seltene Erkrankungen geht, könnt ihr hier nachlesen oder euch einfach als Video anschauen.
Die europäische Definition ist, dass nicht mehr als 5/10.000 Menschen von einer spezifischen seltenen Erkrankung betroffen sein dürfen. Allerdings sprechen wir inzwischen schon von etwa 8.000 seltenen Erkrankungen. Das liegt daran, dass die Diagnostik – insbesondere die genetische Diagnostik – sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Zwar sind in Deutschland, oder auch auf der Welt, nur sehr wenige Patienten von diesen vielen einzelnen Erkrankungen betroffen, aber in der Summe ist es eine ganze Menge an Patienten. Damit ist das Thema auch für uns, in unserem Gesundheitssystem und auch weltweit sehr wichtig. Denn diese Patienten benötigen eine Versorgung, die zu den Erkrankungen passt.
Es gibt ein paar Erkrankungen, zum Beispiel die Mukoviszidose (oder auch zystische Fibrose genannt) – die zählt unter den seltenen Erkrankungen schon zu den häufigen. Was vor allem daran liegt, dass in der Zwischenzeit die Therapie für diese Erkrankung für diese Patienten so gut geworden ist; durch die therapeutischen Eingriffe können die Patienten länger leben, als sie das früher gemacht haben. Morbus Fabry – eine Stoffwechselerkrankung – ist auch bekannter und zählt zu den häufigeren.
Nein, das kann man so nicht sagen. Aber es gibt natürlich Erkrankungen, die hier in Westeuropa zu den seltenen Erkrankungen zählen und dann wiederum an einer anderen Ecke in der Welt nicht so selten sind – zum Beispiel die Sichelzellanämie. Aber ansonsten müsste man richtig prüfen, ob es irgendwo eine Häufung von seltenen Erkrankungen gibt. Seltene Erkrankungen haben zu 80 % eine genetische Ursache. Dadurch wissen wir, dass seltene Erkrankungen in Kulturen, in denen man konsanguin ist –also blutsverwandt heiratet –, häufiger auftreten können.
Das Problem aller seltenen Erkrankungen ist natürlich das Thema: Wenn es selten ist, gibt es wenig Experten, die sich mit diesen Erkrankungen auskennen. Es gibt wenig Spezial-Ambulanzen für die einzelnen seltenen Erkrankungen und wenig Informationen. Das hat sich mit dem Internet in den letzten Jahren – was die Verbreitung von den wenigen Informationen betrifft – sehr verbessert. Auch der Zugriff auf diese Informationen hat sich verbessert, aber zu vielen einzelnen seltenen Erkrankungen gibt es noch ganz wenig. Es wird viel weniger geforscht und natürlich gibt es auch viel weniger Therapien. Mittlerweile haben wir zwar um die 160 Orphan Drugs. Allerdings reden wir von 8000 seltenen Erkrankungen.
Die EU hatte sich mit einer Empfehlung an ihre Mitgliedstaaten gewandt, sich dem Thema seltenen Erkrankungen in den einzelnen Mitgliedstaaten anzunehmen. Seit 2010 ist Deutschland mit allen relevanten Playern aus dem Gesundheitssystem in einen Prozess gegangen, um einen ersten Nationalen Aktionsplan für diese Menschen zu entwickeln. Dieser wurde 2013 veröffentlicht und im Zuge dieser Aktivitäten haben sich in der Zwischenzeit an 35 Universitätskliniken sogenannte Zentren für Seltene Erkrankungen formiert. Das heißt: Sie haben sich eine koordinierende Struktur für Spezial-Ambulanzen gegeben, die sie dort schon vorher hatten. Das heißt: Da gab es schon diese Spezial-Ambulanzen für einzelne seltene Erkrankungen, aber die haben eine übergreifende Struktur geschaffen, damit sie auch nach außen hin sichtbar werden. Und diese Zentren sind für uns als Anlaufpunkt sehr wichtig. Einmal um bei Patienten, wo die Diagnose noch gar nicht klar ist, diese Diagnosestellung zu ermöglichen, aber auch um eine spezialisierte Versorgung für Patienten mit bestimmten seltenen Erkrankungen anbieten zu können.
Der betroffene Patient oder die Eltern von betroffenen Kindern bemerken, dass es ein gesundheitliches Problem gibt. Und dann gehen sie natürlich in der Niederlassung zu ihrem Primärversorger. Dieser schaut sich das an, macht die Diagnostik, doch in der Regel führt das nicht zum richtigen Ergebnis. Dann werden – abhängig von der Symptomatik – häufig auch Fachärzte eingebunden, da seltene Erkrankungen auch jedes Organsystem betreffen können bzw. auch mehrere betreffen. Dann geht es in der Regel nicht richtig weiter für die Patienten: Zwar haben sie dann noch keine Antwort, sind aber meistens sehr hartnäckig und gehen zum nächsten Arzt oder Facharzt – das dreht sich so eine ganze Weile im Kreis. Diagnosestellungen bei seltenen Erkrankungen dauern in der Regel 5 bis 7 Jahre. In dieser Zeit wächst auch die Patientenakte, sodass Ärzte draufgucken und sich fragen: Ist das somatisch, organisch oder psychisch? Wenn Patienten sich gut informieren, dann erfahren sie von den Zentren. Allerdings sind alle schon überlaufen, auch mit Patienten, die gar keine seltene Erkrankung haben. Am Zentrum wird interdisziplinär in die Patientenakte geschaut. Im Zuge einer interdisziplinären Fallkonferenz wird dann die Erkrankung eingeengt. Das heißt: Der Prozess kann somit Jahre dauern.
Ja, wir brauchen die Interdisziplinarität. Ebenfalls brauchen wir einen abgestuften strukturierten Patientenpfad – nicht nur außerhalb des Zentrums. Die müssen wir in den nächsten Jahren entwickeln, damit wir eine Anbindung an die Peripherie bzw. an die niedergelassenen Ärzte bekommen. Natürlich haben wir auch einen strukturierten Patientenpfad im Zentrum, wo man dann Schritt für Schritt vorgeht und sagt, welche Diagnostik jetzt relevant ist und ab welchem Moment wir beispielsweise genetische Diagnostik einsetzen. Wichtig ist auch die Art der Diagnostik: Also wird es nur ein Panel sein oder muss es ein Exom sein? Das ist ebenfalls abgestuft, weil wir ressourcenschonend mit Blick auf das gesamte Gesundheitssystem denken müssen.
Das ist ein großes Thema und auch ein großes Problem. Wir haben momentan eine Projektförderung aus dem sogenannten Innovationsfond, der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in die Welt gesetzt wurde. Darin geht es um innovative Versorgungsformen. Das Projekt heißt ZSE-DUO und hat mehrere Unikliniken mit Zentren für Seltene Erkrankungen eingebunden. An der „Eingangspforte“ hat man sozusagen den Somatiker und einen Experten aus der Psychiatrie sitzen, die sich die Patientenanfragen und Anfragen der niedergelassenen Ärzte anschauen und beurteilen: Handelt es sich um eine seltene Erkrankung oder ist es psychosomatisch? Danach wird auch in der entsprechenden Fachrichtung weitergeschaut.
Nein, auf keinen Fall. Aber die Experten, die sich mit den seltenen Erkrankungen im bestimmten Feld beschäftigen, haben ein größeres Wissen als nur die seltenen Erkrankungen. Wenn sowieso noch nicht klar ist, in welche Richtung die Anfragen gehen, ich jedoch weiß, der Experte beschäftigt sich in dem Feld damit, dann wende ich mich dorthin. Dann schaut man, ist er der Richtige oder gibt es jemand anderen. Die Diagnose kann dann auf dem Weg gestellt werden.
Das ist mir nicht bekannt, dass es das gibt. Aber in dem Nationalen Aktionsplan für das Thema Weiterbildung ist es formuliert; auch wie wir Studenten im Studium damit in Berührung bringen. Also nicht mit einzelnen seltenen Erkrankungen, sondern: Wie geht man bei komplexen Erkrankungen eigentlich gut vor? In der heutigen Zeit auch in Bezug auf die Diagnostikmöglichkeiten, sowie das Thema der benötigten Vernetzung.
In Fort- und Weiterbildungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin ist das ebenfalls ein Thema. Es ist verständlich, dass Kollegen in der Niederlassung sich nicht zu allen seltenen Erkrankungen aktuell informieren, da sie so viel zu tun haben – das Wissen der Medizin explodiert. Aber ich möchte erreichen, dass wir Informationen geben können, dass man im Falle eines Falles weiß, wie man vorgehen soll und an wen man sich wendet, um Patienten an die richtige Stelle zu bringen.
Das Neugeborenen-Screening ist eigentlich der richtige Ansatz, gerade weil viele dieser seltenen Erkrankung schon im Kindesalter auftreten. Die Erkrankungen, die im Neugeborenen-Screening abgefragt werden, sind praktisch fast alle seltene Erkrankungen. Das Neugeborenen-Screening ist in den letzten Jahren ausgebaut worden: Die Mukoviszidose kam dazu und es gibt jetzt bzw. im Prozess auch ein Screening für spinale Muskelatrophie. Viel hängt nicht nur damit zusammen, was sich in der Diagnostik tut, sondern was sich auf der Therapieseite ändert. Beispielsweise gibt es bei der spinalen Muskelatrophie eine Gentherapie, sowie andere Therapien. Das ist ein Thema, da müssen wir schauen, wie wir das mit unseren Mitgliedsorganisationen für die nächsten Jahre angehen.
Uns ist es wichtig, dass unsere therapierbaren Patienten sehr früh Zugang zur entsprechenden Medikation bekommen. Das Ganze sollte in einem Rahmen stattfinden, der trotzdem für die Industrie attraktiv bleibt. Denn sie sollen sich mit diesem Thema der seltenen Erkrankungen beschäftigen und in die Investitionen gehen, um Therapien zu entwickeln. Die Preisentwicklung, die wir aktuell erleben – auch mit neuen Therapien wie Gentherapien und deren Entwicklung – sollte in einem Gesundheitssystem fair bleiben. Es gibt nicht nur die seltenen Erkrankungen, sondern andere, die berücksichtigt werden müssen. Da müssen wir mit der Industrie eine Basis finden, die für die Industrie attraktiv bleibt und in unserem Gesundheitssystem einen Platz findet und finanziert werden kann. Und wie das weitere Vorhaben aus dem G-BA und die Vorschläge sich weiterentwickeln, wissen wir nicht.
Wenn diese Orphan Drugs auf den deutschen Markt kommen, ist der Nutzen von europäischer Ebene aus schon bestätigt. Was der G-BA macht, ist sozusagen den Zusatznutzen gegenüber einer anderen Therapie zu ermessen: Wie viel nützt dieses Medikament bei dieser Erkrankung wirklich im Vergleich zu einer schon vorhandenen anderen Therapie? Wie würden wir diesen Nutzen mit einem Preis versehen?
Bisher ist es so: Die Medikamente kommen mit dem Preis auf den Markt, den die Industrie angibt. Wenn dieses Medikament – bei dem der Preis noch unverhandelt ist, weil der Zusatznutzen vom G-BA noch nicht bestimmt wurde – diese 50 Millionen-Grenze überschreitetet, müssen die Firmen ein Volldossier einreichen. Das wird bei jedem anderen Medikament, dass nicht unter Orphan Drug läuft, sowieso gemacht. Das ist sehr aufwendig und kostenintensiv.
Nein, so was machen wir nicht. Wir sind mit Firmen, die so was anbieten in Kontakt. Die Patienten oder die Angehörigen sind sehr häufig in der Pflicht, diese Versorgung selber gut zu organisieren und abzustimmen. Das ist in unserem System einfach bei der Komplexität der Erkrankung und was teilweise für die Versorgung notwendig ist, nicht gegeben. Aber auch für unser Gesundheitssystem ist es nicht einfach und sehr komplex: Es gibt verschiedene Bereiche an Kliniken mit den stationären und ambulanten. Zudem verschiedene Stakeholder, die alle eingebunden sind, um diese Versorgung zu machen. Und wir müssen einfach sagen, dass das noch nicht besonders gut läuft.
Wir arbeiten als Dachorganisation nicht krankheitsspezifisch. Deswegen kann ich nicht sagen, wo die Entwicklungen für einzelne Erkrankungen stehen. Wenn die Frage aufkommt, ermittle ich das bei unseren Mitgliedsorganisationen. Die arbeiten krankheitsspezifisch und wissen das. Aber die Forschung für seltene Erkrankungen ist natürlich nicht so gefördert, wie das für die häufigen Erkrankungen der Fall ist – was natürlich auch an der Relation liegt.
Ja, das spielt natürlich eine große Rolle und hat als diagnostisches Tool einen unglaublichen Stellenwert gewonnen. Vor allem diese Entwicklung, dass man eben durch diese Sequenzierung parallel schauen kann, was das Problem auf molekulargenetischer Ebene ist. Insbesondere die Kosten sind in den letzten Jahren so gesunken, dass der Einsatz erschwinglicher geworden ist. Mehrere Krankenkassen haben sich nun dazu entschieden, dass sie Selektivverträge dafür abschließen möchten, um ihren Mitgliedern die Exom-Diagnostik anbieten zu können.
Und wir sind aktuell in ein großes Projekt eingebunden, das heißt genomDE. Da hat sich Deutschland 2020 der europäischen Initiative „1 + Million Genomes“ angeschlossen, um das komplette Genom zu untersuchen. Das heißt: Nicht mehr nur die Teile untersuchen, die Proteine kodieren, die wiederum mit bestimmten Erkrankungen verbunden sind. Im Bundesministerium für Gesundheit wurde ein Modellvorhaben aufgesetzt – im § 64e SGB V – bei dem ab 2023 für fünf Jahre geschaut werden soll: Wie lässt sich diese Methodik des whole genome sequencing in der Regelversorgung gut abbilden, bezogen auf Tumor, Krebs, hereditärer Krebs und seltene Erkrankungen? Wir sind gerade dabei, mit allen Experten die Roadmap dafür zu entwickeln. Und dann kann dies in der Regelversorgung angewendet werden, wenn der Bedarf dafür besteht. Die ACHSE versucht das im Prinzip in die Öffentlichkeit zu bringen in Richtung der niedergelassenen Ärzte.
Es geht insbesondere um die frühzeitige Diagnose. Anders als beispielsweise bei Krebspatienten – bei denen man die Methode zur spezifischen Therapiefindung anwendet –, versucht man bei uns die Patienten überhaupt zu finden und richtig zu diagnostizieren.