ORPHAN-KLARTEXT | Welche Rolle spielt COVID-19 bei seltenen Erkrankungen? Und welche Tipps gibt es für den Praxisalltag? Ärzte stellen Fragen, hier gibt's die Antworten.
Die aktuelle digitale Sprechstunde von DocCheck Experts drehte sich rund um das Thema Orphan Diseases. Unsere Sprechstunde mit der Expertin fand auch diesmal wieder als Live-Stream via Zoom statt. Moderiert wurde das Ganze von unserem Medical Content Manager Mats Klas, der eure Fragen ganz einfach an unsere Expertin Dr. Christine Mundlos gestellt hat. Sie ist stellvertretende Geschäftsführerin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE). Den zweiten Teil unserer Reihe, in dem es um Möglichkeiten und Empfehlungen für Ärzte zum Umgang mit seltenen Erkrankungen geht, könnt ihr hier nachlesen oder euch einfach als Video anschauen.
Man kann sich immer direkt an die ACHSE wenden. Wir sind eine Anlaufstelle – auch für Mediziner. Unsere Aufgabe ist dann zu vernetzen. Es gibt aber auch eine Datenbank: Das ist sozusagen eine Kartierung der Kompetenz für seltene Erkrankungen in Deutschland, sowie für Expertenzentren. Erstmal werden nur Unterlagen an diese Anlaufstellen gesandt. Dann kann vom Zentrum aus geschaut werden, wie es weitergehen soll.
Erfahrungsgemäß entwickeln sich diese Erkrankungen oft weiter bzw. sind progredient. Das heißt, wenn man mit bisher angewandten Therapien und Medikationen nicht weiterkommt und neue Symptome hinzukommen bzw. die Erkrankung fortschreitet: Dann empfehle ich, sich an die ACHSE oder an ein Zentrum zu wenden.
Ich warne davor, das aufkommende Bauchgefühl, dass etwas nicht stimmt, zu ignorieren. Es ist auch nicht schlimm, wenn es sich gar nicht um eine seltene Erkrankung handelt, sondern eine andere häufigere und man sich dorthin wendet – nicht jeder ist Spezialist für alle häufigen Krankheiten. Sonst könnte es irgendwann für den Patienten schlimmer werden und man hätte vielleicht an einer Stelle etwas tun können, was wirklich geholfen hätte.
Soweit ich weiß, gibt es noch nichts Richtiges. Es gibt Versuche bzw. viele Firmen, die sich schon daran probiert haben. Was wir uns wünschen: Eine Praxissoftware, bei der der Arzt eine Symptom-Konstellation eingeben kann, sodass eine Art „Red Flag“ hochgeht oder die sagt, dies könnte die seltene Erkrankung X, Y und Z sein.
Für Experten gibt es bereits die Möglichkeit, genetische Softwares anzuwenden – der sogenannte Phenomizer. Da geben Genetiker die Symptome in eine Datenbank ein, diese werden gewichtet und dann erhält man einen Vorschlag, welche genetische Erkrankung es sein könnte. Aber das ein Expertentool für Humangenetiker, das kann nicht jeder einfach mal eben für sich anwenden. Damit muss man auch gewisse Erfahrungen in der Humangenetik gesammelt haben. Die Zukunft wird hoffentlich so sein, dass Softwares in Praxen angewendet werden können, ohne einen Experten für seltene Erkrankungen dabei zu haben. Es ist wichtig, dass Ärzte dann dadurch wissen, wie sie weiter vorgehen können.
Als Dachorganisation arbeiten wir grenzübergreifend. Unsere eigene europäische Dachorganisation EURORDIS sitzt in Paris und hat sehr großen politischen Einfluss in der EU. Allein durch EURORDIS haben sich viele Dinge innerhalb der EU bewegt, die wiederum bei den Mitgliedsländern gelandet sind. Ein anderer Vertreter wäre NORD, das ist eine US-amerikanische Dachorganisation, so wie wir von der ACHSE. Allerdings ist die internationale Vernetzung insbesondere für unsere Mitgliedsorganisationen wichtig. Und das machen auch viele: Sie arbeiten auf europäischer bzw. internationaler Ebene – besonders bei den kleinen Patientengruppen ist das bedeutend. Oft lassen sich Probleme nur lokal nicht lösen und auch für die Forschung ist der Austausch wesentlich. Meist sind klinische Studien so aufgesetzt, dass sie Patienten aus dem internationalen Raum rekrutieren. Bei seltenen Erkrankungen geht es gar nicht anders.
Zentren bieten oft an, dass man sich bei interdisziplinären Fallbesprechungen einschalten kann. Außerdem hat das Zentrum für seltene Erkrankungen Tübingen schon seit Jahren eine Fortbildung. Sie haben eine Fortbildungsakademie für seltene Erkrankungen zu unterschiedlichsten Themen ins Leben gerufen. Das heißt: Anhand einer bestimmten Krankheit oder einer bestimmten Krankheitsgruppe bieten sie eine Fortbildung an, die auch die Patienten selbst für die jeweilige Erkrankung einbindet. Dort wird von Seiten der Kliniker, der Forschung und des Patienten rundherum betrachtet, worum es bei dieser Erkrankung geht und worauf man achten soll.
Aber auch an anderen Zentren werden regelmäßig Fort- und Weiterbildungen angeboten; in der Regel im Februar, weil da der Tag der seltenen Erkrankungen ist. Das sind häufig ein- bis zweitägige Veranstaltungen, in der sich auch Spezialambulanzen vorstellen können. Dann wird geklärt: Welche Erkrankungen sind wie zu behandeln und wie ist der Stand der Forschung? Zudem gibt es Fortbildungen, die über die Ärztekammer laufen.
Ich würde sagen, dass wir da noch ziemlich hinterherhinken. Wir sind aber vernetzt, auch dorthin. Ich habe nun die Zeit und das Glück seit drei Jahren eine Mitarbeiterin zu haben, die gelernte Krankenschwester ist. Sie bringt auch ganz andere Themen in unsere Geschäftsstelle. Über ihre Vernetzung versuchen wir auch dort anzudocken, wo die Pflege stattfindet. Damit wir zumindest auf größeren Kongressen oder vergleichbaren Veranstaltungen diese Thematik anbringen können, um Interesse zu wecken bzw. mit eigenen Ressourcen weiter ausbauen zu können. Allerdings erfasst das auch alle Bereiche der Versorgung: Nicht nur die Pflege, sondern auch andere therapeutische Bereiche, die für die Patienten außerhalb von Kliniken stattfinden.
MODY meint den Diabetes, der untypischerweise bereits vor dem 25. Lebensjahr auftritt. MODY werden auch unter den Begriff Typ-3-Diabetes zusammengefasst. Sie werden durch Mutationen von Genen, die in den Glukosestoffwechsel involviert sind, verursacht. Bei HNF1B-MODY liegt die Häufigkeit bei unter 5 %. Insgesamt liegen MODY bei etwa 3 % der pädiatrischen Diabetesformen vor – somit sehr selten.
Die Corona-Pandemie hat unsere Betroffenen eigentlich in jeder Lebenslage erwischt: Das hat angefangen damit, dass zu Beginn Schutzkleidung und Masken gefehlt haben –auch für pflegende Angehörige zu Hause. Darüber, dass Institutionen, die Erkrankte und Behinderte versorgen, tagsüber irgendwann geschlossen waren; zwischendrin dann, diese Patienten wieder in die Pflege ihrer Eltern nach Hause gekommen sind. Dann das Thema Impfen: Einmal die Priorisierung – wer bekommt wann welchen Impfstoff? Dabei sind auch viele chronisch Kranke am Anfang völlig rausgefallen, wenn man nicht gerade in die Gruppe der altersmäßig oder schwer erkrankt Betroffenen gefallen ist. Wir hatten auch viele Anfragen dazu: Wann bin ich dran oder wie können wir das Thema nach vorne bringen, dass es für uns relevant ist? Als auch mehrere Impfstoffe auf dem Markt waren, wurde häufig gefragt, welcher Impfstoff denn verabreicht werden dürfte.
In den letzten zwei Jahren hat die Wissenschaft überall Daten gesammelt; aber es geht erstmal darum, allgemeine Daten zu sammeln und das für Patientengruppen mit häufigeren Erkrankungen und speziellen Vorerkrankungen. Bei den seltenen Erkrankungen hängt man dadurch natürlicherweise hinterher – das wird auch noch eine Weile dauern. Wir haben dann versucht zu unterstützen, indem wir mit unseren Mitteln Experten vernetzen und vorführen: Gibt es für diese bestimmte Erkrankung ein Risiko oder wie soll man sich verhalten? Das ist nach wie vor ein Problem, das bei uns landet.
Das Thema Schule war für Kinder, die immunologische Erkrankungen haben – die im normalen Leben sowieso schon immer gefährdet sind – schwierig. Sie waren dann nur noch zu Hause und hatten keinen richtigen Anschluss an die Schule und andere Klassen.
Wir hoffen darauf, dass es nach dieser pandemischen Lage nicht so sein wird, dass wir massive Mittelkürzungen im Gesundheitssystem haben – weil das alles viel Geld gekostet hat. Wir sind froh, wenn wir den Status quo bei der Versorgung aufrechterhalten können.
Wir brauchen gute Strukturen bzw. einen strukturierten Patientenpfad in der Peripherie; dieser sollte in die Zentren und wieder zurück zum Primärversorger führen. Wenn wir den Patienten gut führen können, sparen wir im Endeffekt Ressourcen. Denn je länger sie durch dieses Gesundheitssystem wandern – auf der Suche nach Diagnose oder auf der nach richtiger Unterstützung und sie diese nicht finden – desto mehr Geld kostet es. Das heißt: Strukturen aufbauen und schauen, dass wir so Ressourcen und Lebenszeit der Patienten sparen. Zudem muss auch darauf geachtet werden, Patienten effektiver zu finden, die in die Forschung mit eingebunden werden.
Nein, bei so vielen seltenen Erkrankungen gibt es keine allgemeine Betrachtung. Was ich sehr wichtig finde: In so einem Fall immer auf die Patienten zu hören. Die wissen es in der Regel – Kinder sind vielleicht noch zu jung, aber die Eltern wissen es dann. Oft gibt es eine Form von Notfallausweis oder Ähnlichem. Wir hatten beispielweise in Coronazeiten mit einer Betriebsgruppe zusammengearbeitet, die sich um die Glasknochenkrankheit bzw. Osteogenesis imperfecta kümmert. Da haben wir ein Notfallpapier für die Intensivmedizin entwickelt. Denn diese Patienten hatten in erster Linie nicht unbedingt Angst schwer an COVID-19 zu erkranken, sondern in der Notaufnahme falsch angefasst zu werden, was wiederum einen Bruch verursachen kann. Wir wollen so etwas vorbeugen und Sensibilisierung bei den entsprechenden Stellen schaffen, damit man uns oder Begleitpersonen richtig zuhört.
Ich würde eine große Lanze für die Patienten-Selbsthilfe brechen. Wenn das eigene Kind betroffen ist, sind für Eltern insbesondere Netzwerkstrukturen enorm hilfreich für den Umgang mit seltenen Erkrankungen. Das Wissen, worum es dabei geht, mit einer seltenen Erkrankung zu leben, ist bei den Patienten-Selbsthilfeorganisationen einfach da. Das heißt: Man muss sich mit seinen Problemen nicht erklären, sondern wird aufgefangen, da jeder weiß, worum es geht. Zudem bekommt man Rat und Unterstützung, sein Leben aufzunehmen, damit umzugehen und auch Wege zu finden, um zu seiner Versorgung zu kommen.
Bei der ACHSE versuchen wir auch, über unsere Beratung für betroffene Angehörige eine Lösung für spezifische Themen zu finden: Wenn etwas nicht klappt, Probleme in der Versorgung auftreten. Gleichzeitig versuchen wir, diese Aspekte auch als Metathemen zu nehmen und in die Politik zu spielen. Das dient im Endeffekt auch Patienten, die eine häufige Erkrankung haben.
Ja, das ist ein großes Problem. Wir müssen eigentlich noch Anlaufpunkte in der Peripherie identifizieren. Am Anfang waren wir erst mal froh, dass sich überhaupt Zentren als die ersten sichtbaren Leuchttürme für die Versorgung formiert haben. Aber wir müssen schauen: Wen gibt es in der Peripherie, von dem wir vielleicht überhaupt nicht wissen? Was dann aber in räumlicher Nähe zu Patienten sein kann, die einen Bedarf haben. Das sind Strukturen, die müssen wir in der Zukunft angehen und aufbauen. Und wir wissen: Es wird bei den seltenen Erkrankungen immer so sein, dass manche gute Versorgung einfach nie in der direkten Nähe von den Patienten sein wird – es sei denn, sie ziehen in die Nähe vom Zentrum. Denn dafür sind diese Erkrankungen zu speziell. Aber wenn wir solche Ankerpunkte in der Peripherie schaffen könnten, an denen ein bisschen Expertise bzw. Verständnis für die Alltagsversorgung da ist – nicht unbedingt für große Untersuchungen oder etwas, was einmal im Jahr in einem Zentrum stattfinden würde –, dann wäre schon viel geholfen.