Immer mehr Arztpraxen in Deutschland werden von Investoren aufgekauft. Was bedeutet das für die Versorgung – und wie kann gegengesteuert werden?
Das Phänomen ist kein neues, doch eines, das sich sehenden Auges zuspitzt: Die Kommerzialisierung der ambulanten Versorgung. Wer etwas dagegen tun könnte – die Politik –, tut nichts. Widerstand formiert sich hingegen bei den Ärzten selbst.
Private Investoren dürfen sich in Deutschland nicht in das medizinische Versorgungssystem einkaufen. Eigentlich. Doch es gibt ein Schlupfloch in der deutschen Rechtsordnung – und das haben internationale Investmentfirmen für sich entdeckt (wir berichteten).
So können Private-Equity-Gesellschaften zwar nicht direkt die Praxis eines scheidenden Kollegen aus Unterschleißheim übernehmen und ihm diese 1 zu 1 abkaufen; doch ist es ihnen gesetzlich erlaubt, zunächst eine Klinik – sei sie noch so klein – zu erwerben. Im zweiten Schritt kann dann diese erworbene Klinikgesellschaft dem ruheständlichen Kollegen seine alte Praxis – samt Arztsitz – abkaufen. Und sie auch betreiben, denn Krankenhäuser dürfen ambulante Leistungen bekanntlich über Medizinische Versorgungszentren (MVZ) anbieten.
Das auf Rendite und Gewinnoptimierung bedachte System hört an dem Punkt der Übernahme aber noch nicht auf. Angewendet wird auch im medizinischen Sektor das auch anderen Branchen bekannte Prinzip des „buy-and-build“. Dieses sieht vor, ein möglichst großes Netz abzudecken und unter eine Marke zu bekommen. Auf deutsch: Viele Arztpraxen aufkaufen, diese in einem Mutterkonzern zusammenzuführen und diesen dann gewinnbringend an einen anderen Investor zu verkaufen. Finanzexperten rechnen bei diesen Systemen mit einer Renditeerwartung von rund 20 %. Heißt: Es geht darum, Geld zu verdienen.
Wie die Nachforschungen eines Rechercheteams des Norddeutschen Rundfunks (NDR) nun ergaben, sind besonders Augen- und Zahnärzte derzeit im Visier (oft) ausländischer Spekulanten. So arbeitet mittlerweile jeder fünfte Augenarzt in einer solchen Kette. Bei den Zahnärzten sieht es kaum anders aus; hunderte Praxen wurden hier in den vergangenen Jahren übernommen. Auch Radiologen, Nephrologen, Internisten, Gynäkologen oder Hausärzte können davon ausgehen, Begehrlichkeiten bei den Einkäufern zu wecken.
Neben dem direkten Erwerb der einzelnen Praxen und deren Einbindung in einen Gesamtkonzern steigen die ausländischen Geldgeber in den vergangenen Jahren auch auf einem anderen Weg in das deutsche Versorgungssystem ein: Sie beteiligen sich direkt an existierenden MVZ, was mit Einschränkungen möglich ist. Seit ihrer Einführung im Jahr 2004 entstanden in Deutschland rund 4.000 MVZ, an denen heute 23.640 Ärzten arbeiten. Die Mehrheit dieser MVZ sind allerdings in der Hand von niedergelassenen Ärzten. Aber es gibt eben auch die andere Schiene, wie die NDR-Recherche jetzt noch einmal verdeutlicht. Viele Ärzte sehen das sehr kritisch. Die allgemeine Kritik an der Einmischung aus der Privatwirtschaft fasst Dr. Wolfgang Krombholz, Vorstand der KVBayerns zusammen: „Investoren investieren, damit sich das investierte Geld auch vermehrt.“
Anschauliche Beispiele davon, wie profitorientiert die angestellten Ärzte in den konzerngelenkten Praxen jeglicher Art sein sollen, geben Aussteiger seit Jahren: Eine Zahnärztin lässt sich in der aktuellen Recherchearbeit der Journalisten damit zitieren, dass sie „gesunde Zähne angebohrt und Füllungen vorgenommen hat, obwohl es nicht nötig gewesen wäre“. Einer weiteren Patientin sei die Operation eines grauen Stars empfohlen worden – was nach Zweit- und Drittmeinung nicht notwendig war und was sich über die Zeit bestätigte.
Rechnungen stellen und OPs durchführen also um jeden Preis? Es scheint so, zumindest in den Zitaten, die der NDR gesammelt hat. Eine andere anonyme Ärztin berichtet: „Die Augenheilkunde ist ein Gewerbe geworden. Wir sollten da [bei den Augen-OPs] möglichst hohe Stückzahlen rekrutieren.“
Unterstützt wird die Darstellung der Ärzte sowie die Profitorientierung der Investoren nun von den Ergebnissen einer aktuellen IGES-Studie. Die Forscher verglichen die Abrechnungen von Arztpraxen aus sieben verschiedenen Fachrichtungen aus den Jahren 2018 und 2019. Das Ergebnis: „In Praxen, die Finanzinvestoren gehören, [liegt] das abgerechnete Honorar pro Behandlungsfall um mehr als zehn Prozent höher als in einer Einzelpraxis – bei gleicher Patientencharakteristik.“
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Was nach einem reinen Wirtschaftssystem ohne Berufsethos klingt, lässt sich so einfach aber nicht pauschalisieren. Denn auch der Wandel des eigenen Arbeitsverständnisses in der Ärzteschaft ist ein Grund für die Zunahme an MVZs, denn das Arbeitsverhältnis als Angestellter bringt auf einigen Ebenen Vorteile: So können angestellte Ärzte sich den bürokratischen Aufwand zur Betreibung einer Praxis sparen. Eine gute Work-Life-Balance lässt sich viel einfacher erreichen, und nicht zuletzt: „Der ganz klare Benefit liegt darin, dass sich die Zahnärzte voll und ganz auf ihre Arbeit konzentrieren können“, so Wolfgang Hörz, Zahnarzt in Leinfelden-Echterdingen.
Auch gibt es Stimmen selbstständiger Ärzte, die das System befürworten oder zumindest nachvollziehen können (wir berichteten). Digitalisierung, Arbeitszeitmodelle, Bürokratisierung, Innovation sind nur einige Schlagworte in dem Zusammenhang.
In wessen Händen die ambulante Versorgung künftig liegen wird, bleibt trotz Kritik, aktueller Studienlage und vorgebrachten Gegenargumenten im Unklaren. Grund dafür ist eine untätige Politik. Es scheint beinahe, als hätte man die Scheuklappen an und hänge sich lieber an den „großen gesundheitspolitischen Themen der Zeit“ auf, sprich Corona. Auf den Hinweis einer konkreten Gefahr der Monopolisierung bei Augen- und Zahnärzten antwortete das Bundesgesundheitsministerium damit, dass ihm „nicht bewusst sei, ob und inwieweit eine beherrschende Marktkonzentration“ vorliegt.
Lösungsansätze gibt es: Ein Ansatz wäre beispielsweise, den Verkauf von Arztsitzen – insbesondere denjenigen, die der Bedarfsplanung unterliegen – schlicht zu untersagen. Im Anschluss müssten die KVen die Sitze neu ausschreiben und neu vergeben. Das allerdings sägt an einem der Pfeiler der freiberuflichen Arzttätigkeit in Deutschland: Für viele Ärzte ist der Praxisverkauf Teil der Altersvorsorge und zumindet bei guter Lage ist er ist einer der Faktoren, die den niedergelassenen Arztberuf finanziell attraktiv machen. Es gibt bei diesem Vorschalg also keinen ungeteilten Beifall.
Möglichkeit zwei wäre, sich die Apotheker zum Vorbild zu nehmen und deren System des Mehrbesitzverbots zu adaptieren. Da bedürfte es dann allerdings Ergänzungen und Anpassungen, um den an sich ja gewünschten MVZ nicht die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Fest steht: Wenn es so weitergeht, verändert sich die ambulante Versorgungslandschaft grundlegend.
Bildquelle: Kyle Glenn, Unsplash