Ein junger Mann leidet seit einigen Wochen immer wieder unter Schwindelanfällen. Seine umfassende medizinische Vorgeschichte liefert zwar einige Anhaltspunkte, doch am Ende bleibt nur ein Übeltäter.
Ein 36-jähriger Mann leidet seit 3 Wochen immer wieder unter Schwindel, Benommenheit, verschwommenem Sehen und Tinnitus nach dem Aufstehen. Nun stellt er sich mit diesen Beschwerden in der Notaufnahme vor. Außerdem ist er am Tag zuvor beinahe synkopiert und hat sich dabei durch einen Sturz eine Kopfverletzung zugezogen. Innerhalb der letzen drei Wochen ist dies nun schon seine dritte Vorstellung in der Notaufnahme. Er erzählt, in den letzten 2 Jahren ungewollt etwa 40kg abgenommen zu haben, und unter einem vermehrtem Schlafbedürfnis, sowie Muskel- und Knochenschmerzen zu leiden. Außerdem verspüre er immer wieder ein Kribbeln und Taubheitsgefühl in den Fingern und in den unteren Extremitäten bis zu den Knien.
Anamnestisch ergibt sich, dass im Januar 2017 ein Typ-2-Diabetes mellitus mit einem Hämoglobin-A1c-Wert (HbA1c) von 7,9 % diagnostiziert wurde. Sein letzter HbA1c-Wert lag bei 10,5 %. Er nimmt zwar Metformin ein, jedoch nicht regelmäßig. Außerdem sind infolge des Diabetes mellitus bereits eine proliferative diabetische Retinopathie sowie eine bilaterale diabetische periphere Neuropathie, welche mit Gabapentin behandelt wird, diagnostiziert worden. Darüber hinaus ist eine Gliose des Kleinhirns nach einer Ventrikulostomie bekannt sowie Depressionen. Die letzten zwei Jahre litt der Mann außerdem unter chronischem Alkoholabusus - er hat ca. 10 Bier pro Tag getrunken - hat jedoch nach eigenen Angaben vor drei Wochen damit aufgehört.
Der Mann ist dünn und blass, Zeichen für eine Dehydrierung gibt es jedoch nicht. Seit Blutdruck beträgt im Sitzen 148/97 mm Hg und 93/64 mm Hg im Stehen. Die allgemeine körperliche Untersuchung und auch die neurologische Untersuchung sind allesamt unauffällig. Bislang ergibt sich also kein Hinweis, woher die Schwindelanfälle des Mannes kommen könnten. Die Laboruntersuchungen zeigen einen HbA1c 10,2 % und eine erhöhte AST bei 87 mg/dL. Ein EKG zeigt außerdem eine verlängerte QTc-Zeit von 530ms.
Aufgrund dieser Befunde nehmen die Ärzte den Mann nun stationär auf, um die Schwindel weiter abzuklären. Doch merkwürdigerweise ist eine vierundzwanzigstündige Telemetrie unauffällig. Eine Echokardiographie des Herzens wird nicht durchgeführt. Als nächstes lassen Sie die Beschwerden des Patienten endokrinologisch abklären - vielleicht könnten ja eine Hypovitaminose, eine Schilddrüsenstörung oder etwa eine Pathologie der Hypophyse ursächlich sein. Doch umfangreiche Laboruntersuchungen einschließlich PTH, 25-OH-Vitamin D, Vitamin B12, freies T4, ACTH, Cortisol, Testosteron, LH, FSH, Prolaktin und IGF-1 liefern keinerlei Hinweis auf etwas derartiges. Auch die Aldosteron- und Reninwerte im Serum sind normal, was eine Nebenniereninsuffizienz als Ursache der orthostatischen Hypotonie unwahrscheinlich macht.
Daraufhin fordern die Ärzte eine Computertomographie (CT) des Abdomens und des Beckens mit intravenösem Kontrastmittel zum Ausschluss einer Leberschädigung als Folge des Alkoholkonsums an. Doch auch diese ist unauffällig. Könnte es vielleicht doch ein neurologisches Problem sein - vielleicht infolge des Sturzes? Ein CT des Gehirns ohne Kontrastmittel zeigte keine akute intrakranielle Verletzung und bis auf die bereits bekannte Gliose ist sowohl auf den CT- als auch auf MRT-Bildern nichts zu erkennen, was die Beschwerden erklären könnte.
Daher bleibt den Ärzte nur noch eine mögliche Erklärung: Der Patient leidet an einer Dysautonomie als Folge des chronischen Alkoholabusus. Sie beginnen zunächst den Patienten mit Physiotherapie und insbesondere Übungen zur Haltungsstabilisierung zu therapieren. Sein Blutdruck bessert sich darunter bereits auf 130-140/70-80 mmHg ohne signifikanten Abfall bei Messungen im Liegen und Stehen. Die Ärzte verschreiben ihm außerdem Midodrin, Gabapentin und Thiamin und entlassen ihn mit dieser Medikation.
Bei einer Nachuntersuchung nach 6 Monaten ist sein HbA1c-Wert auf 6,5 % gesunken, wobei er inzwischen eine Insulintherapie erhält. Doch obwohl er seine Medikamente regelmäßig einnimmt und nach eigenen Angaben auch keinen Alkohol mehr konsumiert hat, erleidet er immer noch gelegentlich Episoden orthostatischer Hypotonie mit einem Blutdruckabfall auf 100/50-60 mmHg. Doch weitere Beinahe-Synkopen habe es nicht mehr gegeben. Wegen des erheblichen Gewichtsverlusts ordnen die Ärzte noch eine gastrointestinale Untersuchung an - weiteres ist über den Fall nicht bekannt.
Text- und Bildquelle: Assaker et al. / Oxford Medical Case Reports
Bildquelle: Denys Nevozhai / Unsplash