„Wie, Sex? Aber ihre Familienplanung ist doch abgeschlossen.“ Selbst fitte Onkologen können sich oft nicht vorstellen, dass auch reifere Patienten noch Spaß an der schönsten Nebensache der Welt haben – ganz ohne Kinderwunsch.
Warum fällt es den meisten Erkrankten schwer, über eine Nachwirkung zu sprechen, die fast alle betrifft und die eigentlich die schönste Nebensache der Welt ist: das Liebe machen? Neben dem rein geschlechtlichen Akt geht es dabei auch um die Beziehung selbst, das Vertrauen und die Liebe füreinander.
Nach dem Satz: „Sie haben Krebs“ wird alles hinterfragt, was vorher eine feste Bank des Paares zu sein schien. Es fängt mit einem anderen Körpergefühl an, dann kommen Unsicherheiten, unausgesprochene Erwartungen, falsche Annahmen sowie Schuldgefühle dazu. Das Selbstwertgefühl bekommt einen tiefen Riss.
Wenn das nicht angesprochen wird, sich jeder in seine Ecke verkriecht und die Sprachlosigkeit in die Beziehung Einzug hält, ist die Trennung nicht mehr weit – zumindest aber das Auseinanderleben. An Sex ist nach der Diagnose und während der Therapie oft gar nicht mehr zu denken. Gesund werden ist das Ziel, dem alles andere untergeordnet wird. Alle Hoffnung ruht auf der Zeit nach der Therapie, wenn alles vorbei ist. Aber ist es das auch?
Die bange Frage „Wird es wieder wie vorher werden?“ beschäftigt nicht nur junge Menschen. Dennoch sprechen selbst viele Ärzte reiferen Menschen und damit auch älteren Krebspatienten ab, sich überhaupt noch für Sex zu interessieren. Das ist auch der Grund dafür, dass die Frage nach dem bisherigen Sexleben im Sprechzimmer der Onkologen häufig gar nicht erst gestellt wird.
Die Partnerschaft ist mehr als eine gelebte Checkliste von Alltagsdingen und gemeinsamen Arztbesuchen. Die nehmen allerdings nach einer Diagnose einen großen Raum ein – einen zu großen, wie ich finde.
Als ich mich mit Prof. Tanja Zimmermann von der Uniklinik Hannover dazu in einer Podcastfolge unterhielt, brachte sie genau diesen Aspekt mit ein. „Ich sage immer zu meinen Paaren: Zusammen zum Arzt gehen, ist keine gemeinsame Aktivität. Also da würden wir uns schon etwas anderes wünschen.“ Absolut. Diese Art von „Date“ ist nichts, was das Herz höher schlagen lässt. Ich sage mal so: Wenn ihr es zusammen zum Arzt schafft, dann vielleicht auch in ein schönes Café.
Mit meinem Mann habe ich es damals so gemacht, dass wir versucht haben, Zeiten und Räume zu finden, in denen wir über die Erkrankung gesprochen haben und genauso andersherum. Wir wollten auch mal frei haben von dem Thema. Wenn es ging, waren wir unterwegs und haben kleine Ausflüge gemacht.
Ich habe sehr darauf geachtet, nicht nur auf meine Erkrankung reduziert zu werden. Schließlich hatte ich noch andere Themen im Kopf, Pläne und Ideen. Alles, was ich selbst machen konnte, wollte ich auch tun. Obwohl das öfter zu Spannungen führte. Die Angst um mich war immer gegenwärtig, genauso wie mein bekannter Hang, mich zu überfordern. Darüber hinaus hatte ich noch andere Rollen auszufüllen und dazu gehörte es, neben Ehefrau, Geliebter, Mutter, Tochter und Schwester auch als Ratgeberin und Ansprechpartnerin für meine Freunde da zu sein. Sie durften und sollten mir auch unbedingt von ihren Problemen, Sorgen und Plänen erzählen. Wer war ich denn, dass ich als einzige einen Anspruch auf Kranksein oder sich schlecht fühlen hatte? „Entschuldige, dass ich dir jetzt was vorjammere, dir geht es ja viel schlechter als mir“, solche Sätze habe ich grundsätzlich abgeschmettert.
Lachen und Fröhlichkeit standen und stehen immer ganz oben auf meiner Liste. Ohne Humor und Leichtigkeit hätte ich das alles sicher nicht so gut gemeistert. Mein Onkel sagte einmal zu mir: „Nella, du machst es uns wirklich leicht, mit dir und der Diagnose umzugehen.“ Bis dahin hatte ich darüber überhaupt nicht nachgedacht.
Aber zurück zur Zweierbeziehung. Wenn es dir also gelingt, dich nicht komplett einzuigeln, machst du – macht ihr – schon eine Menge richtig. Was übrigens gerade am Anfang bei vielen Paaren zu beobachten ist, ist die sogenannte Kohäsion, also das Zusammenrücken. „Wir beide schaffen das. Wir halten zusammen.“ Das ist doch mal eine gute Nachricht. Schwierig wird es dann, wenn sich die Rollen auf längere Sicht verschieben – wenn der eine Part viele Aufgaben des anderen übernimmt, sie zu seinem Ursprungspaket noch on top kommen. Dazu gehören Bereiche wie die finanzielle Absicherung – ein Einkommen fällt teilweise oder sogar ganz weg –, der Haushalt, die Betreuung der Kinder.
Eine sehr mitfühlende Psychoonkologin riet meinem Mann mal: „Sie brauchen einfach mehr Ich-Zeit.“ Er konnte sich einen kräftigen Lacher nicht verkneifen. „Wann soll ich das für mich realisieren? Wie stellen Sie sich das vor? Ich bin selbstständig und kann mir nicht einfach ein paar Tage oder auch Stunden frei nehmen. Die Ich-Zeit verwende ich für das Familienmanagement: Hausaufgaben- und Schulbetreuung, Kindertaxi und Haushalt.“
Ich gebe offen zu, ich habe erst im Nachhinein begriffen, was er da geleistet hat. Die Diagnose zieht eben alle Aufmerksamkeit und Kraft ab. Trotzdem waren wir immer ein Team. Er hat dazu im Hintergrund den ganzen Papierkram für die Versicherungen und den Arbeitgeber erledigtt, jede Studie gelesen, die es zu meiner Erkrankung gab. Die Gespräche mit Ämtern und Ärzten habe meist ich geführt, ich wollte die Zügel in der Hand haben. Das war mir sehr wichtig.
Oft haben wir uns gefragt: Wie machen das Menschen, die niemanden haben oder die es einfach nicht packen, weil sie viel zu schwach sind und Schmerzen haben? Wenn ich ihn auf den Rat der Psychologin hinwies, winkte er meist ab. „Ruf doch mal Cornelia an. Geh doch mal mit Paul essen.“ Ich musste ihn regelrecht zu Unternehmungen mit Freunden zwingen.
Und das Thema Sex? Tja, das hat länger Sendepause. Am Anfang konnten wir schwer darüber reden, weil die Emotionen schnell hochkochten, wir sehr unglücklich mit der Situation an sich waren, aber nie mit uns.
Das Verrückte ist, dass die Kommunikation häufig geprägt ist von Missverständnissen. Wen wundert's? Da wird schnell ein Zusammenzucken nach einer liebevollen Berührung als Abwehr gewertet, dabei ist sie meist auf das neue Körpergefühl und Empfindlichkeiten zurückzuführen. Der Krebs ist wie eine Mauer, vor die du läufst und dann benommen zurücktaumelst. Dann checkst du dich innerlich ab: Bin ich noch da? Ist noch alles da? Funktioniert noch alles?
Und schließlich kommt dann auch dieser Gedanke hoch:„Bin ich überhaupt noch attraktiv oder begehrenswert? Mag mich meine Partnerin, mein Partner so überhaupt noch? Berührungen werden immer mehr zum Stresstest. Deine bessere Hälfte ist ebenfalls verunsichert und meint zu wissen, dass es an ihr liegt, sie nicht gewollt ist, sie etwas falsch macht und wertet diese Reaktionen als Abweisung. Ein echtes Dilemma, das zum Teufelskreis werden kann.
All das spielt sich in den Köpfen ab. Aber: Niemand ist gut im Gedankenlesen. Daher hilft nur der Austausch, das Nachfragen. Einfach ist das nicht immer, aber am Ende sehr befreiend.
Onkologen gehen auf diesen Aspekt selten ein, wenn es um Sexualität geht. Sie steuern meist nur die medizinische Zielrichtung an und die lautet: Fertilitätserhalt. Dass es Patienten gibt, die diese Kinderwunschphase abgeschlossen haben und trotzdem noch an Sex interessiert sind, kommt ihnen nicht in den Sinn.
„Gerade nach der Therapie möchte der Angehörige wieder zu dem zurück, was mal war. Es soll alles wieder wie früher werden“, sagt Zimmermann. Kennen wir das nicht auch, die Sehnsucht nach dem davor? Außerdem fallen die meisten Betroffenen nach der Therapie in ein großes Loch, die Seele schlägt mit aller Macht zu. Da an ein „Wir beginnen da, wo wir einmal aufgehört haben“ zu denken, ist ziemlich illusorisch.
Mir sagte einmal eine Bekannte: „Da kannst du aber froh sein, dass dein Mann bei dir geblieben ist.“ Als ich entgegnete „Ja, und er auch“, hat sie ziemlich kariert geguckt. Wenn es denn aber so ist, dass du oder dein Partner, deine Partnerin zu dem Schluss kommt, dass sich die Wege trennen sollten, kann das auch eine Art Lebens-Reset, ein Neustart sein. Ich tue mich mit dem Wort Chance immer etwas schwer, aber hier passt das hin.
Genauso irreführend wie die unausgesprochenen Annahmen ist die Suche nach der Schuld. Bin ich schuld an meiner Erkrankung? Was hätte ich anders, besser machen können? Wo bin ich falsch abgebogen? Oder auch: Ich bin schuld, dass wir uns jetzt mit den Folgen der Diagnose rumschlagen müssen.
Ich zitiere hierzu mal wieder Frau Zimmermann: „Es besteht einfach eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir diese Krankheit bekommen (derzeit ist jeder zweite in Deutschland davon betroffen) und je älter wir werden, umso wahrscheinlicher wird es. Die Erkrankung ist ein Zustand, in den wir geraten sind. Sie ist nicht ein Zeichen dafür, dass wir etwas falsch gemacht haben, man schwach ist oder für irgendeine Verfehlung.“
Selbstverständlich ist es nachvollziehbar, ergründen zu wollen, woher es kommen kann, dass du krank geworden bist – schon allein deshalb, um sich vor einer erneuten Diagnose zu schützen. Da gehe ich mit. Die falschen Schlüsse zu ziehen und, schlimmer noch, die falschen Entscheidungen auf Grund von Annahmen zu treffen, macht es schwierig. „Unsere Ehe läuft schon lange nicht mehr gut. Deswegen bin ich erkrankt“, ist eine dieser Aussagen, die Zimmermann häufiger hört. Traurig, aber wahr.
Mich hat natürlich eine Sache besonders interessiert, nämlich die über allem schwebende Frage: Wie kann man das Feuer der Beziehung wieder entfachen? Wie geht das? Und dann: Gibt es dafür Übungen? Was empfiehlt die Paartherapeutin? Wann ist die Zeit, in der die Bereitschaft für Nähe wieder wächst?
Einen Zahn muss ich gleich mal ziehen: Die Zeit fürs Loslassen, die eine Voraussetzung für guten Sex ist, tritt nicht sofort nach Therapieende oder nach der Reha ein. Da gibt es keinen imaginären Schalter, den die Betroffen umlegen können. „Jetzt ist doch alles wieder gut“ ist leider (noch) ein unerfüllter Wunsch. Was dann kommt, ist fies und kündigt sich nicht an. Ich nenne es die verflixte dritte Phase. Da schlägt meist die Seele zu, die Nerven liegen blank. Den ersehnten Schalter umzulegen, erfordert viel Einfühlungsvermögen – von beiden Seiten.
Was aber eine Lösung sein kann, ist die dreistufige Methode. Sie beginnt mit vorsichtigem Streicheln, Erkunden und steigert sich dann immer mehr.
Außerdem gibt oder gab es häufig Phasen in der Paarbeziehung, in der nicht schon die Schritte des Liebsten im Treppenhaus die Schmetterlinge zum Fliegen bringen oder man sich die Kleider vom Leib reißt, wenn er oder sie die Wohnungstür hinter sich schließt. Die Zeit nach der Geburt ist meist so ein Moment, wenn der Stress überhandnimmt oder jeder intensiv an seiner Kariere bastelt, die betagten Eltern zu versorgen sind und, und, und. Eine Krebsdiagnose ist auch so ein Stressor nur in einer bedrohlichen Potenz.
Auch schon vor meiner Erkrankung fand ich es meist äußerst selbstentlarvend, wenn mir andere Frauen ungefragt von ihrem unglaublichen Liebesleben erzählten. „Dreimal die Woche ist bei uns mindestens Action im Bett. Und bei euch so?“ Nirgendwo wird so viel gelogen wie bei der berühmten Häufigkeit. Komisch nur, dass ausgerechnet diese Paare inzwischen geschieden sind.
Ist es nicht eher so, dass sich meist schon vor der Erkrankung wenig über die Bedürfnisse ausgetauscht wurde? Und das soll nach der Therapie dann auf einmal passieren? Etwas schwierig, oder?
Dass es an konkreten Hilfestellungen mehr als mangelt, erlebte ich das erste Mal in der Anschlussheilbehandlung. Da kam ein ehemaliger Bundeswehroffizier, Alter ca. 62 Jahre, so sauer aus einem Vortrag über „Sexualität nach der Prostatakrebs-OP“, dass er auf mich zustürmte und meinte: „Das war einfach nur großer Mist. Nichts, womit ich etwas anfangen könnte. Nella, ich mache das jetzt selbst und mache mich schlau.“ „Mach das, Klaus.“, erwiderte ich leicht perplex. Ein paar Tage später hatte er „seine Jungs“ im Garten der Einrichtung zusammengetrommelt und die Recherche-Ergebnisse vorgestellt.
Es gab danach nur noch ein Gesprächsthema. Und natürlich ging er mit seiner kleinen Vortagsreihe in die Verlängerung. Noch dreimal brachte er sein Wissen an den Mann – wortwörtlich. Selbst die Ärzteschaft und das Psychoonkologenteam gehörten zu seiner Hörerschaft.
Eine andere Begegnung mit einer sehr aparten Frau und lieben Freundin war leiser und weniger spektakulär, aber nicht minder nachhallend und intensiv.
Theresa ist Mitte 60 und berichtete mir in einem lauschigen Café an einem Berliner See aufgeregt von ihrem letzten Besuch beim Onkologen. Sie war so aufgewühlt, dass sich ihre Stimme leicht überschlug: „Du, Nella, stell dir mal vor, als ich den Arzt vor zwei Tagen fragte, wie ich denn wieder mein Liebesleben in Schwung bekomme, hat der mich angeschaut, als wäre ich eine sexsüchtige Alte, dabei ist man dafür doch nie zu alt, oder?“ Ich stimmte ihr zu, klar. Wir haben noch lange darüber gesprochen und sie war diejenige, die mich ermutigt hat, diesen Beitrag zu schreiben.
Logisch, wer keine Kinder mehr bekommt, hat auch keinen Sex mehr. So sieht das aus. Was für ein Blödsinn. Ich bin immer wieder erstaunt, dass wir in unserer ach so aufgeklärten Welt noch in diesen alten Denkmustern verhaftet sind.
Meine Gesprächspartnerin Frau Zimmermann konnte dazu auch etwas berichten und erzählte von einem psychoonkologischen Symposium. Sie hatte in dieser Fachkollegenrunde genau das erwähnt und wurde milde lächelnd zurechtgewiesen: „Ach, Krebspatienten sind doch alle alt. Sex ist da doch kein Thema mehr.“ Als sie daraufhin fragte, ab wenn denn in Zahlen gesprochen damit zu rechnen sei, dass die Lust verschwunden ist, nicht dass sie aus Versehen jemanden darauf anspricht, der schon „drüber“ ist, gingen verlegene Blicke zu Boden.
Natürlich ist es immer gut, wenn wir selbst aktiv werden und uns diesem Thema stellen. Doch mal ehrlich, wie viele von uns sind wie Klaus? Da gehört schon einiges dazu, sich das zuzutrauen, den Mut zu haben, das vor Publikum anzusprechen.
So groß muss es aber auch nicht werden. Der nächste Termin beim Arzt kommt bestimmt. Sei nicht schüchtern, Sex gehört zur Partnerschaft dazu und macht viel für dein Wohlbefinden und deine Lebensqualität. Wenn es Lösungen für dein Problem gibt, wäre es doch schade, sie nicht zu kennen und auszuprobieren, oder?
Mehr von der Autorin gibt es hier: Das Zellenkarussell.
Bildquelle: Kinga Cichewicz, unsplash