Eine Patientin betritt mit auffälligen neurologischen Symptomen die Notaufnahme. Zwei Wochen später liegt sie in einem Koma, aus dem sie nie mehr erwacht. Was ist geschehen?
Es war ein regnerischer Montagabend Ende Januar in den 90er Jahren. Eine 48-jährige Chemie-Professorin meldete sich in der Notaufnahme einer angesehenen Universitätsklinik. Seit fünf Tagen litt sie nun schon unter Koordinationsschwierigkeiten und hatte zunehmend Probleme, sich klar auszudrücken. In den vergangenen Monaten hatte sie zwar immer mal wieder Anfälle von Übelkeit und Durchfall bemerkt, aber im Nachgang eines Auslandsurlaubs hatte sie das bisher nicht allzu sehr beunruhigt.
Die Diagnose gab den Ärzten ein Rätsel auf: Die üblichen Labortests waren alle unauffällig, und auch MRT- und CT-Aufnahmen des Kopfes waren weitestgehend normal. Der Zustand der Patientin aber verschlechterte sich in den folgenden Tagen rapide. Am Wochenende war die Patientin bereits nicht mehr in der Lage zu gehen; sie klagte unter anderem über ein Kribbeln in den Fingern und Sehprobleme. Verschiedene Diagnosen wurden überprüft und verworfen.
Eine genauere Blutuntersuchung lieferte dann des Rätsels Lösung – es handelte sich um eine akute Quecksilbervergiftung. Eine sehr schwere Quecksilbervergiftung, um genau zu sein: Normal liegt die Quecksilber-Konzentration im Blut zwischen 1 – 8 μg/L; der toxische Schwellenwert ist bei etwa 200 μg/L erreicht. Der Blutwert der Patientin lag bei 4000 μg/L.
Die einzig mögliche Therapie war damit klar und die Ärzte begannen dementsprechend umgehend mit einer intensiven Chelat-Therapie, um das Quecksilber aus dem Organismus zu entfernen. Zwar erschien diese anfänglich erfolgreich, aber sie konnte die Patientin unglücklicherweise nicht mehr retten. 22 Tage nach Auftreten der ersten neurologischen Symptome fiel sie in ein Koma und verstarb einige Monate später an den Folgen der massiven Schädigung des ZNS.
Aber eine ganz neue Frage drängte sich nun in den Vordergrund: Wie hatte sich die Patientin in so einem alarmierenden Maß mit Quecksilber vergiftet?
Bei einer Professorin für Chemie lag ein Arbeitsunfall nahe: In einer gewissen Ironie des Schicksals erforschte sie nämlich die toxische Wirkung von Metallen. Sie selber gab daher zu Beginn den Ärzten den Hinweis, nach einer Vergiftung Ausschau zu halten. War also ein Leck im Labor schuld? Ihre Laborkollegen müssten dann ja ebenfalls betroffen sein. Prompt wurde also eine Untersuchung aller Mitarbeiter und der Laboroberflächen angeordnet, mit Ergebnis: Nichts. Nada. Niente. War es vielleicht sogar Mord? Es wäre schließlich nicht der erste Fall, in dem das Schwermetall als Gift missbraucht wurde.
Der tatsächliche Hergang war viel banaler und wieder war es die Patientin selber, die den richtigen Riecher gehabt hatte. Angesichts des Zeitfensters und der Schwere der akuten Symptome erschien es schier unmöglich: Ein halbes Jahr zuvor hatte die Professorin bei der Vorbereitung einer Probe einen kleinen Spritzer Dimethylquecksilber (HgMe2) auf die Hand bekommen. Die behandschuhte Hand, wohlgemerkt! Da sie sich an alle Anforderungen zur Schutzausrüstung gehalten hatte – und es auch keine Hinweise auf einen direkten Hautkontakt gab – hatte sie sich damals nicht viel dabei gedacht.
Tatsächlich wurde auch erst durch diesen Fall bekannt, wie gefährlich HgMe2 sein kann. Der Stoff wurde damals schon selten benutzt, da bekannt war, dass er – wie viele andere Hg-Verbindungen – stark toxisch ist und es nur wenige Anwendungen für ihn gibt. Man wusste aber schlicht nicht, dass a) die Hautresorption dermaßen effektiv ist und b) die üblichen Handschuhe gegenüber HgMe2 keinerlei Schutzwirkung haben. Dementsprechend wurden erst im Nachgang die Regeln für den sicheren Umgang stark verschärft und der Einsatz der Verbindung weitestgehend eingestellt. Dass sich ein ähnlicher Fall noch einmal ereignet, ist dadurch sehr unwahrscheinlich.
HgMe2 ist noch gefährlicher als andere Hg-Verbindungen. Die Ursache dafür ist, dass der unpolare Stoff nur schlecht über die Nieren ausgeschieden wird und länger im Körper verbleibt. Dabei wird er zu Monomethylquecksilber metabolisiert, welches in der Lage ist, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und sich dort anzureichern. An diesem Punkt ist es dann schwierig, das Quecksilber durch Chelatoren wieder zu entfernen.
Daher ist es wichtig, so früh wie möglich nach Kontakt mit der Therapie zu beginnen. Das optimale Antidot ist zwar nicht bekannt; für Monoalkylquecksilberderivate haben sich grundsätzlich allerdings DMPS und auch Penicillamin als geeignet erwiesen. Keinesfalls sollte Dimercaprol eingesetzt werden, da es den Hg-Einstrom ins ZNS womöglich noch fördert. Grundsätzlich gilt bei der Chelat-Therapie: Aufgepasst! Die Medikamente haben nämlich keine absolute Spezifität und bilden auch mit wichtigen körpereigenen Metallen wie Calcium und Zink stabile Komplexe, die im Zuge der Behandlung dann ebenfalls ausgeschwemmt werden.
Hier findet ihr den originalen Fallbericht zum Nachlesen.
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