Forscher haben im Mikrobiom der Lunge eine neue funktionelle Verbindung zwischen Atemorgan und Gehirn entdeckt. Das scheint Aufschluss darüber zu geben, warum bestimmte Immunreaktionen ausgelöst werden.
Die Hauptaufgabe der Lunge ist es, uns mit lebenswichtigem Sauerstoff zu versorgen. Um dort den Immunschutz zu gewährleisten, weist das Lungengewebe eine spezielle Flora auf – das Lungenmikrobiom. Bekannt ist außerdem, dass die Lunge bei der Entwicklung von Krankheitsprozessen im Gehirn eine wichtige Rolle spielt: So steigern Infektionen der Lunge beispielsweise das Risiko, an Autoimmunerkrankungen zu leiden. Warum und wie ausgerechnet die Lunge bei der Steuerung von Autoimmunprozessen des Gehirns beteiligt ist, war bislang jedoch völlig unklar.
Forscher wollten nun mehr über das Lungenmikrobiom wissen und manipulierten es durch die lokale Gabe eines niedrig dosierten Antibiotikums. Dabei beobachteten sie, dass sich der Angriffspunkt des Antibiotikums nicht in der Lunge oder den Immunorganen befand. Stattdessen stießen die Wissenschaftler auf deutlich messbare und sogar mikroskopisch sichtbare Veränderungen der Mikroglia: Nach der Antibiotikagabe in die Lunge waren die Verästelungen der Mikroglia verkürzt und verdickt. Zudem reagierte die Immunzelle auch weniger stark auf entzündliche Signale, was eine verminderte Rekrutierung von Immunzellen in das entzündete Gehirngewebe zur Folge hatte. Das Lungenmikrobiom schien also die Aktivität der Mikroglia zu regulieren und somit die Anfälligkeit des Gehirns eine zerstörerische Autoimmunentzündung zu entwickeln zu steuern.
Schließlich fahndeten die Wissenschaftler nach den bakteriellen Signalen, die eine derartige Mikroglialähmung auslösen konnten. Entscheidende Hinweise lieferten Analysen der Lungenbakterien, die ergaben, dass sich bestimmte Bakterien, die Lipopolysaccharid produzieren, durch die Antibiotikagabe verstärkt im Lungengewebe ansammeln. Die erhöhte Menge Lipopolysaccharid löste die beobachtete Mikroglialähmung und Autoimmunresistenz aus. Eine Senkung des Lipopolysaccharids in der Lunge bewirkte dagegen genau das Gegenteil: Die Autoimmunerkrankung verstärkte sich.
Diese neu entdeckte Lunge-Hirn-Achse ist für die Entwicklung von Krankheitsprozessen von Bedeutung: So bestimmte die Zusammensetzung des Lungenmikrobioms die Anfälligkeit, eine Autoimmunentzündung des Gehirns zu entwickeln, wie sie bei der Multiple-Sklerose auftritt. „Das Lungenmikrobiom wirkt daher als eine Art Frühwarnsystem für das empfindliche Gehirngewebe“, sagt Co-Autorin Francesca Odoardi. Das kann auch Folgen für die Gesundheit haben: Infektionen der Lunge, Antibiotikabehandlungen und Klimaveränderungen können auf das Lungenmikrobiom einwirken und somit die Immunreaktionen innerhalb des Gehirns beeinflussen.
Die neue und unerwartete funktionelle Verbindung zwischen Lunge und Gehirn kann zukünftig helfen: „Möglicherweise lässt sich diese neue Lunge-Hirn-Achse sogar therapeutisch einsetzen“, sagt Studienautor Prof. Alexander Flügel. „So könnte eine gezielte Gabe von Probiotika oder bestimmten Antibiotika dazu genutzt werden, die Immunreaktionen des Gehirns gezielt zu beeinflussen und damit nicht nur Multiple Sklerose, sondern generell Erkrankungen unseres Zentralnervensystems – bei denen die Immunaktivität der Mikroglia eine Rolle spielt – zu behandeln“, so Flügel.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität. Hier findet ihr die Originalpublikation.
Bildquelle: Robina Weermeijer, unsplash.