Das Langzeitprojekt Pflegekammern stockt, weil Teile der Basis rebellieren. Ein wichtiges Schlachtfeld ist Nordrhein-Westfalen. Der Bund will erstmal Zahlen sammeln, aber noch weiß keiner so genau, wie.
In der Corona-Pandemie wurde mehr über Pflege geredet als je zuvor. Trotzdem ging das eine oder andere pflegebezogene Ereignis merkwürdig unter in der Berichterstattung. Dazu gehört, dass im vergangenen Jahr die beiden Pflegekammern in Schleswig-Holstein und Niedersachsen sang- und klanglos abgewickelt wurden – nachdem sie erst 2018 etabliert worden waren.
Damit hat aktuell nur noch das Land Rheinland-Pfalz eine Pflegekammer. Diese befindet sich derzeit in der zweiten Legislaturperiode, das Interesse der Pflegekräfte, gemessen an der Wahlbeteiligung, ist eher übersichtlich. In Bayern gibt es außerdem die „Vereinigung der Pflegenden in Bayern“ (VdPB), die – wie die Kammern – eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, allerdings keine vollumfängliche Kammer, ist. Die Mitgliedschaft ist freiwillig, Praxisanleiter müssen sich registrieren, aber auch sie müssen nicht beitreten. Zudem hat das Landesministerium neben der rechtlichen auch die fachliche Aufsicht. Es gibt also keine fachliche Freiheit, wie das bei verkammerten Berufen sonst der Fall ist. (Die VdPB selbst betont allerdings, dass sie fachlich unabhängig agiert.)
Der Aufbau von Pflegekammern in Deutschland ist ein gesundheitspolitisches Langzeitprojekt: „Beispielsweise gibt es die Kammerdiskussion in Nordrhein-Westfalen schon seit 1997“, sagt Dr. Jette Lange vom Fachbereich Gesundheit der FH Münster. Lange ist für den Bundesverband Pflegemanagement Mitglied im Errichtungsausschuss der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen. In diesem Bundesland soll, wenn alles nach Plan läuft, Ende des Jahres eine konstituierende Kammerversammlung abgehalten werden. Dann gäbe es erstmals eine Pflegekammer Nordrhein-Westfalen. Mit bis zu 270.000 Pflegekräften wäre sie auf einen Schlag die größte deutsche Heilberufekammer überhaupt.
Das zentrale Argument der Kammerbewegung im Bereich Pflege lautet, dass eine Kammer dazu beitrage, der größten Berufsgruppe des Gesundheitswesens mehr politisches Gewicht zu verschaffen. Bisher gibt es auf Ebene der Bundesländer die Landespflegeräte, die in gesundheitspolitischen Gremien aber nur beratende Funktion haben und die auch nicht zwingend einbezogen werden müssen. „Es wird einfach oft über Pflege gesprochen, ohne dass die Pflege zu Wort kommt“, betont Jette Lange. „Eine Kammer kann dabei helfen, dass sich das ändert, dass die Pflege mit einer Stimme spricht und dass sie am Tisch der Gestalter Platz nehmen kann.“
Auch über die politische Mitsprache hinaus sieht Lange im Gespräch mit DocCheck viele Gründe, die für die Verkammerung sprechen. So geben sich Heilberufekammern eine Berufsordnung, die rechtlich bindend ist und auf die sich Pflegekräfte dann auch berufen können, etwa wenn ein Arbeitgeber bestimmte Qualitätsanforderungen nicht gewährleistet. „Im Moment fühlen sich Pflegekräfte in solchen Situationen eher hilflos, das würde sich durch eine Berufsordnung ändern“, sagt Lange. Eine Pflegekammer dürfte längerfristig auch – ähnlich wie bei den Ärzten – zu einer Vereinheitlichung von Aus- und Weiterbildung führen, sie könnte eine Fortbildungsordnung formulieren und andere Dinge mehr: „Es geht am Ende um die Weiterentwicklung unseres Berufs.“
Nicht alle sehen das so. Im Zusammenhang mit den Abwicklungen der beiden Pflegekammern in Schleswig-Holstein und Niedersachen und vor allem mit Blick auf die Einführung einer Pflegekammer in Nordrhein-Westfalen hat sich in den letzten zwei Jahren in der Pflege ein spürbarer Widerstand gegen die Verkammerung entwickelt. Der bricht sich vor allem auf Facebook Bahn, hat aber auch schon zu öffentlichen Plakataktionen geführt.
Der Widerstand hat mehrere Dimensionen. Die beiden Hauptpunkte, die angebracht werden, hängen eng zusammen. Viele wollen nicht zu einer Mitgliedschaft in einer Kammer verpflichtet werden. Auch wenn Diskussionen über die Verkammerung der Pflege schon seit 1997 laufen, fühlen sich Pflegekräfte von der derzeit laufenden Registrierung überfahren. Ein erheblicher Anteil der Pflegekräfte dürfte die Debatte in den letzten Jahren schlicht nicht mitbekommen haben. Der zweite Punkt, der mit der Pflichtmitgliedschaft eng zusammenhängt: Eine Verkammerung bedeutet verpflichtende Beiträge, die zwar das zu versteuernde Einkommen senken, aber dennoch manchen ein Dorn im Auge sind, zumal es gerade in der Pflege viele Teilzeitkräfte gibt, die auch kleine Abzüge vom Jahreseinkommen spüren.
Auf der Detailebene kommen dann weitere Einwände, etwa dass die Pflege ja trotz Kammer kein Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bekomme. Oder, dass die Pflegekammern – anders als die Ärztekammern – ohne Altersversorgung daherkämen. Oder aber, dass nicht geglaubt wird, dass eine Pflegekammer zu besseren Arbeitsbedingungen und mehr Geld führt.
Diese Einwände sind bei genauerem Hinsehen nicht immer stichhaltig: Das Stimmrecht im G-BA betrifft die Bundesebene. Eine „Bundespflegekammer“ in Analogie zur Bundesärztekammer wird aber erst denkbar, wenn auf Länderebene die Basisarbeit geleistet wurde. Vorher stellt sich diese Frage gar nicht. Die Verkammerung ist ja gerade ein Schritt in genau diese Richtung.
Was die Altersvorsorge angeht, haben Versorgungswerke mit den Kammerbeiträgen nichts zu tun, sie laufen davon separat. Das ist bei den Ärzten so, und würde auch bei der Pflege so sein. „Jede Kammer kann selbständig entscheiden, ob sie ein Versorgungswerk gründen will“, sagt Jette Lange. „Das gilt auch für Pflegekammern.“ Auch über Versorgungswerke muss man freilich erst ernsthaft reden, wenn die Kammer etabliert ist und nicht die Gefahr besteht, dass sie in zwei Jahren wieder abgewickelt wird. Und was „mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen“ angeht, werden Kammern von vielen Pflegekräften derzeit mit Gewerkschaften verwechselt, die sie nicht sind.
Bei oberflächlichem Blick könnte man auf den Gedanken kommen, dass in Sachen Pflegekammern in Deutschland aktuell das Chaos regiert. Tatsächlich spiegeln die Diskussionen wohl eher die Komplexität eines Berufsfelds wider, das am Ende dann doch deutlich weniger homogen (und vor allem auch wesentlich größer) ist, als Ärzte- oder Apothekerschaft. Politisch herrscht derzeit gespanntes Abwarten – zum einen mit Blick auf Nordrhein-Westfalen, zum anderen mit Blick auf die neue Bundesregierung.
„Nordrhein-Westfalen wird eine Signalwirkung haben“, so Lange. Auch deswegen geben sich dort alle Beteiligten größte Mühe, dass es nicht zu einer Neuauflage des Desasters von Niedersachsen kommt. Dort beteiligten sich nach politischer Etablierung der Kammer nur rund 20 Prozent der Pflegenden an der Kammerwahl. Die Mehrheit der gewählten Kammervertreter war am Ende gegen die Kammer, sodass die Landesregierung ein Kammerauflösungsgesetz schrieb und der neu gegründeten Kammer den Auftrag gab, sich wieder aufzulösen. In Schleswig-Holstein lief es ähnlich.
In Nordrhein-Westfalen stärkt die Politik der „Kammer in Gründung“ mehr den Rücken als in den beiden anderen Bundesländern: „Wir haben eine Anschubfinanzierung von 5 Millionen Euro erhalten, und Ende 2021 gab es den Beschluss der Landesregierung, die Anschubfinanzierung auf die erste Legislaturperiode zu erweitern“, so Lange. Die Hoffnung ist, dass das kontroverse Thema „Beitrag“ dadurch etwas an Brisanz verliert. Wie hoch der Beitrag ist, muss am Ende die Kammerversammlung entscheiden. Die Anschubfinanzierung erlaubt es, zunächst beitragsfrei einzusteigen. Im weiteren Verlauf schlägt der Errichtungsausschuss einen Beitragssatz von maximal 5 Euro im Monat vor.
Anders als in anderen Bundesländern gibt es in Nordrhein-Westfalen auch einen recht intensiven Dialog zwischen Kammerbewegung und Kammerkritikern. Demnächst startet außerdem die Kampagne „Kammer vor Ort“, bei der zwei Bullys von Einrichtung zu Einrichtung fahren werden, um für die Kammer zu werben und auch gleich die nötigen beglaubigten Kopien der Berufsurkunden für die Registrierung zu erstellen.
Ein kleines Fragezeichen bleibt die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Sollte die SPD gewinnen, dann würde die eine Partei (außer der AFD) regieren, die die Pflegekammer explizit ablehnt. Da aber sowohl die derzeit regierenden CDU und FDP als auch Bündnis 90/Die Grünen einer Pflegekammer sehr positiv gegenüberstehen, muss ein SPD-Sieg nicht das Ende für die Pflegekammer NRW bedeuten, zumal auch die SPD der Erweiterung der Anschubfinanzierung zugestimmt hat.
Das zweite Fragezeichen ist durch den Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition auf Bundesebene entstanden. Dort fand die Kontroverse um die Pflegekammern insofern Widerhall, als eine bundesweite Befragung vorgesehen ist, die eruieren soll, wie die pflegerische Basis zur Verkammerung beziehungsweise generell zum Thema berufspolitische Repräsentanz des Berufsstandes steht. Was auf den ersten Blick wie eine gute Idee aussieht, ist in der Umsetzung gar nicht so einfach. Auch deswegen ist hier eher kein kurzfristiger Impuls zu erwarten. Auf Nachfrage von DocCheck äußerte sich das Bundesministerium für Gesundheit wie folgt:
„Eine solche Befragung bedarf angesichts der unterschiedlichen Entwicklungen in den Ländern zur Gründung und teils auch Auflösung von Pflegekammern einer sorgfältigen Vorbereitung und Abstimmung, damit mit der Befragung tragfähige und weiterführende Ergebnisse erreicht werden können. Insbesondere ist […] sicherzustellen, dass Zeitpunkt und Methodik der Befragung so gewählt werden, dass alle beruflich Pflegenden auch die Möglichkeit erhalten, teilzunehmen und sich einzubringen. Über die Durchführung und konkrete Ausgestaltung der Befragung ist abhängig von den weiteren Entwicklungen im Verlauf der Legislaturperiode zu entscheiden.“
Anmerkung: Der Artikel wurde im Zusammenhang mit der Vereinigung der Pflegenden in Bayern am 10. Mai 2022 geändert. Die Mitgliedschaft in der VdPB ist auch für Anleiter freiwillig, dies war in der ersten Version des Textes nicht korrekt.
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