Die große Koalition hatte versprochen, bürokratische Hürden für Betriebe respektive Praxen abzubauen. Doch es kommt anders: Ein neuer Entwurf zur Arbeitsstättenverordnung sorgt für Wirbel. Die Novelle könnte Inhaber verpflichten, ihre Räume komplett umzubauen.
Unliebsame Überraschung aus Berlin: Bereits im Oktober 2014 berieten Regierungsvertreter über Novellierungen der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV). Unter Federführung von Andrea Nahles (SPD) entstand ein umstrittener Referentenentwurf, der weder vom Koalitionspartner noch von Oppositionspolitikern groß diskutiert wurde. Jetzt reagieren alle Seiten mit Verwunderung auf geplante Reformen. Im bisherigen Regelwerk aus dem Jahr 2004 geht es vor allem um Eckdaten zu Arbeitsräumen, Pausen-, Bereitschafts- und Sanitärräumen, zur Beleuchtung, Belüftung und zur Raumtemperatur. Der Knackpunkt: Untergrenzen hinsichtlich der Betriebsgröße gibt es nicht. Deshalb greift die ArbStättV auch bei kleinen Betrieben, sprich Arztpraxen.
Für Inhaber könnten entsprechende Neuerungen gemäß Bundestags-Drucksache 509/14 richtig teuer werden. Alles beginnt mit Kleiderschränken. Geht es nach der großen Koalition, sollen alle Angestellten ihren eigenen, abschließbaren Spind bekommen. Was in Krankenhäusern schon immer gang und gäbe ist, lässt sich in kleinen Praxen wohl kaum umsetzen. Weiter geht es mit Lichtquellen. Die Regierung scheut sich nicht, medizinisch zu argumentieren. „Natürliches Tageslicht nimmt bei der Beleuchtung von Arbeitsräumen einen sehr hohen Stellenwert ein. In Verbindung mit einer ungehinderten Sichtverbindung nach außen wirkt sich das Tageslicht positiv auf die physische Gesundheit (z. B. Hormonhaushalt) sowie auf die psychische Gesundheit (z. B. Motivation, Arbeitszufriedenheit und Leistungsfähigkeit) der Beschäftigten bei der Arbeit aus“, schreibt Nahles. Bei der letzten Novelle zur ArbStättV aus dem Jahr 2004 hieß es noch, Arbeitsstätten müssten „möglichst“ ausreichend Tageslicht erhalten. Das war Koalitionsvertretern zu schwammig. Ihre Antwort: „Zur Klarstellung und zur Bereinigung von Unstimmigkeiten soll deshalb die grundsätzliche Anforderung der Sichtverbindung nach außen für die Beschäftigten, die in Arbeitsräumen tätig werden oder sich in Sanitär-, Pausen- und Bereitschaftsräumen, Kantinen, Erste-Hilfe-Räumen und Unterkünften aufhalten, in die ArbStättV aufgenommen werden.“ Viele Teeküchen oder Toiletten in Arztpraxen dürften nicht mehr betrieben werden, es sei denn, Ärzte bauen entsprechende Räume um. Das mag nicht nur an der Zeit und am Geld scheitern – Denkmalschutz-Auflagen kommen vielerorts noch hinzu. Von dieser Regelung sind Arbeitsstätten mit mindestens 2.000 Quadratmetern Grundfläche ausgenommen, falls Oberlichter zur gleichmäßigen Beleuchtung beitragen. Nicht die einzige Sorge von Inhabern: Mindesttemperaturen von 17 Grad sollen künftig für die gesamte Praxis gelten, inklusive Archiv oder Lagerraum. Auch will die Regierung Chefs verpflichten, Heimarbeitsplätze zu überwachen. Blendet etwa die Sonne oder liegt die Beleuchtung unter 500 Lux? Dann müssten sie eingreifen.
Viele Einzelmaßnahmen, ist Schwarz-Rot gar auf radikalem Reformkurs? Keineswegs, auch in Koalitionskreisen brodelt es gewaltig. Die Idee, abschließbare Kleiderschränke für Betriebe und Praxen zur Pflicht zu machen, geht auf Unionsvertreter im Bundesrat zurück. Sachsens Regierung ergänzte Kleiderablagen mit dem Wörtchen „abschließbar“. Von Fenstern und Oberlichten in Toiletten beziehungsweise Erste-Hilfe-Räumen wollen Ländervertreter aber nichts wissen: „Die Umsetzung dieser Forderung würde bauliche Änderungen erfordern, die Kleinst- und mittlere Unternehmen überfordern“, schreiben sie in einer Stellungnahme.Für Katinen oder Pausenräume bleibt die Forderung erhalten. Während sich Spitzenfunktionäre der Ärzteschaft bisher bedeckt halten, nehmen Wirtschaftsvertreter kein Blatt vor den Mund. Für Lencke Steiner von den jungen Unternehmern ist 2015 schon jetzt das „Jahr der überbordenden Arbeitsmarkt-Bürokratie“. „Diese Regulierungswut trifft vor allem kleine und mittlere Unternehmen hart und kostet sie Zeit und Geld. Bald haben wir Unternehmer nichts anderes mehr zu tun, als uns 24 Stunden am Tag um die Einhaltung bürokratischer Übertreibungen zu kümmern. Das Geschäft bleibt dabei auf der Strecke“, warnt Steiner. Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer findet noch deutlichere Worte: „Man glaubt, in Absurdistan zu sein.“ Politiker hätten nicht erkannt, „welche Brisanz und welcher bürokratische Aufwand hinter Paragraphen stecken, die harmlos klingende technische Details beschreiben“. Sein Verband präsentiert detaillierte Einschätzungen zu den Folgen der ArbStättV – und geht mit Nahles hart ins Gericht. Die Bundesarbeitsministerin wehrt sich umgehend: „Ich sehe dies als Angriff auf meine Person und auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Ministeriums, die mit großem Engagement und hoher Sachkenntnis tätig sind. Jetzt stehen Gespräche zwischen Nahles und Kramer an. Gewerkschaften erheben ebenfalls ihre Stimme.
Ärzte können zumindest hoffen, dass das umstrittene Reformpaket noch in letzter Minute stark entrümpelt wird - hier wäre das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der Pflicht. Nimmt die Bundesregierung ihr Versprechen, am Bürokratieabbau zu arbeiten, ernst, wird es höchste Zeit, Farbe zu bekennen. Dass die neue Verordnung tatsächlich zum 1. März in Kraft tritt, bezweifeln vor allem Oppositionsvertreter.