Eine Patientin kommt mit starken Magenschmerzen in meine Praxis. Nur eine Infektion? Beim Blick aufs EKG klingeln bei mir die Alarmglocken.
Es ist schon eine ganze Weile her, als ich an einem Samstag einen Ärztlichen Bereitschaftsdienst machte. Die Sprechstunde war im vollen Gang, es war ein Tag im Frühjahr mitten in der Infektsaison. Eine „Magen-Darm-Welle“ ging herum: Schon mehrfach musste ich Bäuche untersuchen, Krankmeldungen ausstellen und von Durchfall und Bauchschmerzen geplagte Kinder versorgen, sowie deren besorgte Eltern beruhigen.
Ich kam gerade aus dem Ultraschallraum, als mir eine Patientin auffiel, die auf dem „Notfallstuhl“ saß – eine Art lautlose Warnung meiner MFA, diese Patientin als nächste aufzurufen, weil es ihr nicht gut ging.
Ich rief sie in mein Zimmer. Die eher junge Patientin von etwa 55 Jahren – in der Medizin ist bekanntermaßen jung, wer unter 60 Jahre alt ist –, kam langsam in mein Sprechzimmer geschlurft. Man sah ihr die Schmerzen wirklich an. Die langen, grau melierten Haare hingen der sportlich wirkenden Frau ins Gesicht, als sie zu mir aufblickte und sagte: „Ich habe so so höllische Magenschmerzen!“ Die Stimme ist leise, beinahe keuchend kommen die Worte aus ihrem Mund.
„Seit wann denn?“, hakte ich nach.
„Seit drei Tagen“, antwortete sie. „Gestern war es kurz besser: Ich habe wie immer meinen Haferschleim gegessen und die Säureblocker genommen. Da dachte ich, es geht weg. Aber heute morgen waren die Schmerzen wieder da.“
„Sie kennen solche Schmerzen also schon?“
„Ja. Nein. Also schon, aber nicht so schlimm wie jetzt.“
Sie erzählte, sie habe etwa ein halbes Jahr vor dem Besuch eine Gesundheitsuntersuchung mit allem Drum und Dran gehabt – Labor, körperlicher Untersuchung, Sono, EKG –, weil sie starke Magenschmerzen gehabt hätte. Eine Magenspiegelung hatte schließlich die Diagnose einer Helicobacter-Gastritis ergeben. Die Eradikation war erfolgt, aber so richtig gut ging es ihr seitdem dennoch nicht. Als sie nun schmerzgekrümmt auf dem Stuhl saß, vermutete ich einen Rückfall – sie sah so blass aus und beugte sich verzweifelt nach vorne.
„Wie stark sind die Schmerzen, auf einer Skala von 1 bis 10, wenn 10 der schlimmste Schmerz ist, den Sie je hatten?“
„10!“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Ehrlich wahr, so einen Schmerz hatte ich noch nie. Der geht heute bis in den Rücken.“
Die Alarmglocken, die leise in meinem Kopf bimmelten, waren plötzlich ganz laut. Hinter Magenschmerzen kann insbesondere bei Frauen auch ein Herzinfarkt stecken.
Die Dame drückte mir einen Stapel Arztbriefe in die Hand: Der Befund der Magenspiegelung, eine Laboruntersuchung und den letzten Brief vom Kardiologen. Bei dem war sie ein Jahr zuvor zur Kontrolle, weil ihr Cholesterinspiegel erhöht war. Aus dem Brief des Kardiologen ging hervor, dass die Untersuchung ohne pathologischen Befund war, die Herzfunktion gut und sie angehalten wurde, auf das Rauchen zu verzichten. Eine Static-Therapie wurde niedrig dosiert eingeleitet und sollte beizeiten angepasst werden.
„Wir machen mal ein EKG und nehmen Blut ab“, erklärte ich ihr und sie wurde von meiner MFA mitgenommen.
Keine zehn Minuten später sah ich das EKG auf meinem Bildschirm und es genügte ein Blick, um die Dramatik zu erkennen: Das EKG zeigte ST-Hebungen in den Ableitungen I, II sowie in den Brustwandableitungen V3-5. Sie hatte einen Herzinfarkt, der am ehesten den RIVA (Ramus interventricularis anterior) betraf und offenbar nicht mehr ganz frisch war. Selten habe ich – bis heute – so einen ausgeprägten Befund gesehen, seitdem ich nicht mehr in der Notaufnahme tätig war.
Ich rief die Patientin wieder zu mir und erklärte ruhig – aber sachlich – den Ernst der Lage, dass sie einen Herzinfarkt habe. Dass ich ihr jetzt schon mal einen venösen Zugang legen und den Rettungswagen mitsamt Notarzt rufen würde und sie schnellstmöglich in eine kardiologische Abteilung eingewiesen werden müsste. „Aber mein Mann ist draußen und wartet auf mich! Und ich muss morgen wieder arbeiten, ich bin doch heute auch erst von der Arbeit gekommen! Ich habe doch nur Magenschmerzen, können Sie mir nicht einfach was aufschreiben?“
Sie war ganz aufgebracht. Ich erlebe es häufig bei Notfällen im ambulanten Setting, dass Patienten aus ihrer Angst heraus in eine Art Verhandlungsposition gehen. Der Brief müsse aber zur Post, die Freundin käme aber noch zum Kaffee oder der Mann brauche sein Mittagessen. Ich erklärte ihr die Situation nochmals und holte auch ihren Mann dazu, was sie etwas beruhigte. Er redete besorgt auf sie ein: „Du weißt, was bei deiner Schwester war. Du musst jetzt mitfahren!“
Inzwischen war auch der Rettungsdienst eingetroffen und verkabelte die Frau am Monitor. Als der Notfallsanitäter, den ich noch aus meiner Notaufnahme-Zeit kannte, das EKG in der Hand hielt, nickte er mir zu uns sagte: „Jep. Is’n STEMI. Haste recht gehabt.“ Ich wischte mir über die Stirn und sagte gespielt erleichtert: „Da habe ich ja Glück gehabt, dass ich nicht daneben lag.“ Er grinste. Die Diagnose war so eindeutig, dass man den STEMI gar nicht übersehen konnte.
Er rief dann in einer Klinik an und sprach beinahe im Befehlston ins Telefon: „Wir brauchen einen Tisch. Sind gleich da“, und legte auf. So schnell hatte ich noch nie einen „Tisch“ für einen Patienten bekommen. Nachdem die Patientin ASS und Heparin erhalten hatte, wurde sie in die kardiologische Abteilung einer großen Klinik gefahren.
Gerne hätte ich erfahren, wie es mit der Dame weiterging. Im hausärztlichen Bereich sehen wir unsere Patienten nach einer Einweisung ins Krankenhaus oder nach einem Notfall in der Regel nach der Entlassung schnell wieder und erfahren, wie der weitere Verlauf war. Bei der Dame, die ich im Bereitschaftsdienst behandelte, kann ich nur mutmaßen, dass der Nikotinabusus und das erhöhte Cholesterin – bereits unter niedrig dosierter Statin-Therapie – womöglich auf eine familiäre Vorbelastung trafen. Denn weitere Risikofaktoren lagen nicht vor. Sie hatte laut kardiologischem Befund keine Hypertonie. Der Blutdruck war auch während meiner Untersuchung normwertig, sie war schlank, schien aktiv zu sein und auch ein Diabetes mellitus lag laut Laborwerten nicht vor.
Zugegebenermaßen dachte ich einige Tage über die Patientin nach: Ihre seit langem bestehenden Magenschmerzen ließen sich eindeutig durch den Helicobacter pylori erklären. Aber womöglich hatte sie dadurch die „Magenschmerzen“, die durch ihre wahrscheinlich vorliegende KHK ausgelöst waren, nicht wahrgenommen oder fehlgedeutet. Ihr LDL-Cholesterin war mit 180 mg/dl erhöht und die Statin-Therapie war zu niedrig eingestellt. Dennoch ergaben ihre Daten anhand des PROCAM-Scores nur ein 1,8-fach erhöhtes Risiko, in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden – in der Theorie.
In der Praxis gilt seit der Leitlinie der European Society of Cardiology von 2019 der Grundsatz: „The lower the better“.
Gemeint ist damit ein sehr niedriges LDL-Cholesterin, das bei Hochrisikogruppen am besten unter 55 mg/dl zu drücken ist. Eine Unterscheidung von Primär- und Sekundärprävention ist nicht mehr vorgesehen. Grundsätzlich wird in der Leitlinie allen Patienten über 40 Jahren eine Risikoermittlung und ein Lipidprofil mitsamt LDL-C, HDL-C, Triglyzeriden, und einmalig die Bestimmung von Lipoprotein A und Apolipoprotein B sowie des CRP-Werts empfohlen. Die Berechnung des 10-Jahres-Risikos für einen kardiovaskulären Tod erfolgt anhand von Alter, Geschlecht, systolischem Blutdruck, Gesamtcholesterin und Raucherstatus, woraus sich vier Risikogruppen ergeben.
Diese sind nach der neuen Leitlinie wie folgt definiert:
Patienten die bereits eine kardiovaskuläre Erkrankung, Diabetes mellitus oder eine Niereninsuffizienz haben, werden automatisch in die Hochrisikogruppe eingeteilt. Laut Empfehlungen sollten sie ein LDL-Cholesterin unter 55 mg/dl erreichen. Wenn ein Patient unter laufender Statin-Therapie ein zweites kardiovaskuläres Ereignis innerhalb von zwei Jahren erleidet, wird eine aggressive Senkung auf 40 mg/dl empfohlen. Weiter fließen in die Einschätzung des Risikos die Familienanamnese, Plaques in den Halsschlagadern oder ein koronarer Kalzium-Score über 100 mit ein. Auch für Patienten mit geringem Risiko wird eine Senkung des LDL-C auf unter 116 mg/dl empfohlen.
Die Leitlinie wird unter anderem aufgrund ihrer Stringenz diskutiert, denn durch die strenge Risikoeinteilung wird ein Großteil der Bevölkerung zum Behandlungsfall, sagen Kritiker. Diese weisen außerdem auf bestehende Interessenkonflikte der Autoren mit Herstellern von PCSK9-Hemmern hin. Der Einsatz von Ezetimib und PCSK9-Hemmern wird bei Versagen der Statin-Hochdosistherapie durch die ESC empfohlen. Die Praktikabilität der Empfehlung wird sich zeigen. Beim Fall meiner Patientin im Bereitschaftsdienst scheint die Empfehlung „the lower the better“ und „the earlier the better“ Sinn zu machen.
Quellen:
Bildquelle: Polina Zimmerman, Pexels.