Erweist sich Vitamin D als Allzweckwaffe gegen Autoimmunerkrankungen, Demenz und Corona? Die Ergebnisse zweier großer Studien legen das nahe. Was ist dran?
Über die Rolle von Vitamin D wurde in den letzten zehn Jahren viel geforscht – und zwar in Zusammenhang mit einer Reihe von Erkrankungen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Autoimmunerkrankungen, Diabetes, Atemwegserkrankungen und aktuell auch COVID-19. Das Fazit zu den Ergebnissen lautet meist: gemischt. Nun haben sich zwei groß angelegte Studien mit der Rolle von Vitamin D bei Autoimmunerkrankungen und für das Risiko einer Demenz bei Diabetes-Patienten beschäftigt. Auch zu Vitamin D bei COVID-19 gibt es neue Studien. Wie aussagekräftig sind die Ergebnisse? Und was lässt sich daraus für die Praxis ableiten?
Verschiedene Studien haben bereits gezeigt, dass Vitamin D das angeborene und das erworbene Immunsystem moduliert. Es wird daher vermutet, dass Vitamin D bei Autoimmunerkrankungen und bei der Bekämpfung von Infektionen einen günstigen Effekt haben könnte. Die Ergebnisse dazu sind aber gemischt. Andere Untersuchungen deuten darauf hin, dass bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose, rheumatoider Arthritis oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen häufig ein Vitamin-D-Mangel besteht.
Forscher vom Brigham and Women’s Hospital in Boston (USA) untersuchten nun in einer großen, randomisierten, doppelblinden und Placebo-kontrollierten Studie, die im British Medical Journal (BMJ) erschienen ist, ob Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren das Auftreten von Autoimmunerkrankungen beeinflussen können. Im Rahmen der VITAL-Studie wurden 25.871 Probanden (12.786 Männer ab 50 Jahren und 13.085 Frauen ab 55 Jahren) aus den gesamten USA über einen Zeitraum von fünf Jahren untersucht. Ihr Durchschnittsalter betrug 67,1 Jahre. Je nach Versuchsbedingung erhielten die Teilnehmer täglich 2.000 Internationale Einheiten (IU) Vitamin D und 1.000 mg Omega-3-Fettsäuren in Form von Fischöl, nur Vitamin D, nur Fischöl oder ein Placebo. Beobachtet wurde das Neuauftreten von rheumatoider Arthritis, Polymyalgia rheumatica , Hashimoto-Thyreoiditis, Psoriasis, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und weiteren Autoimmunerkrankungen. Die Patienten berichteten dabei in Fragebögen über ihre Symptome, anschließend wurde die Diagnose von einem Arzt überprüft.
Die Auswertung ergab, dass Probanden, die täglich Vitamin D (in Kombination mit oder ohne Omega-3-Fettsäuren) einnahmen, ein um 22 Prozent verringertes Risiko für das Auftreten einer Autoimmunerkrankung hatten. Dieser Effekt war in den letzten drei Jahren des Untersuchungszeitraums ausgeprägter als in den ersten zwei Jahren. Bei der alleinigen Einnahme von Omega-3-Fettsäuren war das Risiko für Autoimmunerkrankungen dagegen nicht signifikant verringert.
Die Autoren leiten aus ihren Ergebnissen Empfehlungen für die Praxis ab: „Ich habe neue, evidenzbasierte Empfehlungen für Frauen ab 55 Jahren und Männer ab 50 Jahren, um das Risiko für Autoimmunerkrankungen zu senken“, sagt Karen Costenbader, Hauptautorin der Studie. Sie ist Rheumatologin an der Abteilung für Rheumatologie, Immunologie und Allergie des Brigham and Women’s Hospital in Boston (USA). „Ich empfehle ihnen, 2.000 IU Vitamin D und 1000 mg Fischöl pro Tag einzunehmen – die in der VITAL-Studie verwendeten Dosierungen.“ Weiterhin sollten Fachgesellschaften die Ergebnisse bei der Entwicklung von Leitlinien zur Vorbeugung von Autoimmunerkrankungen berücksichtigen, insbesondere bei mittelalten und älteren Erwachsenen, so die Autoren. Doch lassen sich aus den Ergebnissen tatsächlich konkrete Empfehlungen ableiten?
„Bei der Studie handelt es sich um eine methodisch hochwertige Interventionsstudie mit guter statistischer Power, bei der eine vernünftige Vitamin D-Dosierung verwendet wurde. Zudem wurden die Teilnehmer über einen relativ langen Zeitraum beobachtet, so dass ein möglicher Effekt auch zutage treten kann“, sagt Dr. Stephan Scharla, Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie in Bad Reichenhall und Sprecher der Sektion Knochen- und Mineralstoffwechsel der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie e. V. (DGE). Einschränkend sei zu den Ergebnissen zu sagen, dass der Unterschied an neu aufgetretenen Autoimmunerkrankungen zwischen den Gruppen relativ gering war. Dies bedeute, dass man sehr viele Menschen mit Vitamin D behandeln müsse, um einige wenige Autoimmunerkrankungen zu verhindern, so Scharla.
Insgesamt treten Autoimmunerkrankungen im höheren Erwachsenenalter relativ selten neu auf. „Dennoch zeigt die Studie, dass Vitamin D einen gewissen schützenden Effekt vor dem Auftreten von Autoimmunerkrankungen bei älteren Erwachsenen hat“, so der Endokrinologe. Insbesondere, wenn gehäuft Autoimmunerkrankungen in der Familie vorkommen, könne eine vorbeugende Einnahme von Vitamin D sinnvoll sein.
Auch bei Diabetes und bei Demenz wird ein möglicher günstiger Einfluss von Vitamin D diskutiert. So haben Patienten mit Typ-1-Diabetes und Typ-2-Diabetes häufig einen Vitamin-D-Mangel. Weiterhin ist ihr Demenzrisiko im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erhöht. Im Bezug auf Demenz legen prospektive Studien nahe, dass der Vitamin-D-Spiegel in der Allgemeinbevölkerung mit dem Risiko für eine Demenz zusammenhängen könnte. Doch auch hier sind die Ergebnisse uneinheitlich. Wie Vitamin D das Risiko für Demenz beeinflussen könnte, ist bisher unklar. Es wird vermutet, dass das Vitamin Neuroinflammationen und Schädigungen der Blutgefäße im Gehirn verringern könnte. Weiterhin könnte es einen günstigen Effekt auf die Blutzuckerregulation, den Blutdruck und die Blutfettwerte haben – alles Faktoren, die bei Diabetes eine Rolle spielen und die mit der Entstehung von Demenz in Zusammenhang gebracht werden.
Eine große Studie in PLOS Medicine hat nun untersucht, wie der Vitamin-D-Spiegel mit dem Risiko für Demenz bei älteren Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes zusammenhängt. In die Analyse wurden 13.486 Erwachsene ab 60 Jahren ohne Demenz aus der UK Biobank Studie einbezogen – einer großen, prospektiven britischen Langzeitstudie. Das Durchschnittsalter lag bei 64,6 Jahren und 64,3 Prozent der Teilnehmer waren männlich. Ein Vitamin D-Spiegel von größer oder gleich 75 nmol/l wurde als ausreichend angesehen, ein Vitamin D-Spiegel von kleiner als 50 nmol/l als Vitamin-D-Mangel. Tatsächlich hatten nur 9,1 Prozent der Probanden einen Vitamin D-Spiegel von größer oder gleich 75 nmol/l, bei 61,8 Prozent lagen die Werte unter 50 nmol/l. Ein Vitamin D-Mangel war bei den untersuchten Diabetes-Patienten also häufig.
Im Follow-Up-Zeitraum von durchschnittlich 8,5 Jahren wurden 283 Fälle von Demenz beobachtet, davon 101 Fälle mit Alzheimer-Demenz und 97 Fälle mit vaskulärer Demenz. Es zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Vitamin D-Spiegel und dem Risiko für Demenz jeder Ursache sowie für vaskuläre Demenz. Weiterhin zeichnete sich ein Grenzwert von 50 nmol/l ab: Höhere Vitamin D-Spiegel waren mit einem signifikant niedrigeren Risiko für Demenz jeder Ursache, Alzheimer-Demenz und vaskuläre Demenz verbunden. Dabei waren die Ergebnisse unabhängig von möglichen anderen Risikofaktoren für Demenz wie Ernährungs- und Lebensstilfaktoren, der Schwere der Diabetes-Erkrankung und der Gebrechlichkeit. Die Ergebnisse könnten für die Vorbeugung von Demenz bei Diabetes-Patienten im höheren Erwachsenenalter relevant sein, schreiben die Autoren – sie sollten aber in weiteren Studien repliziert werden.
„Aus meiner Sicht handelt es sich um eine interessante Studie mit einem relativ großen Datensatz. Allerdings wurde hier nur ein statistischer Zusammenhang beobachtet, bei dem viele Einflussfaktoren eine Rolle spielen können“, kommentiert Scharla. „Wichtig wären hier Interventionsstudien, um tatsächlich kausale Zusammenhänge nachweisen zu können.“ Ein bedeutsamer vorbeugender Faktor für Demenz sei beispielsweise Bewegung – und viel Bewegung im Freien trage wiederum zu einem höheren Vitamin-D-Spiegel bei. „Weiterhin haben vor allem schwerer erkrankte Diabetes-Patienten oft einen niedrigen 25-OH-Vitamin-D-Spiegel – und zugleich ein höheres Risiko für Demenz“, so der Experte. „Es kann also sein, dass es einen anderen gemeinsamen Grund für einen Vitamin-D-Mangel und ein erhöhtes Demenzrisiko gibt.“
Auch der Zusammenhang zwischen Vitamin D und SARS-CoV-2 war in den letzten zwei Jahren Thema einer Reihe von Studien. „Dabei wurde öfter ein statistischer Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und schweren COVID-Verläufen, insbesondere der Behandlung auf der Intensivstation bzw. der Notwendigkeit zur mechanischen Beatmung, gefunden“, berichtet Scharla. Eine aktuelle Meta-Analyse ergab, dass bei schweren Verläufen die Wahrscheinlichkeit für einen Vitamin-D-Mangel um 64 Prozent höher war als bei leichten Verläufen. Weiterhin war ein Vitamin-D-Mangel mit einem erhöhten Risiko für eine Krankenhausbehandlung und einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert. „Allerdings haben ältere Patienten mit Diabetes und Adipositas ein höheres Risiko für schwere Verläufe – und diese Patienten weisen häufig auch einen Vitamin-D-Mangel auf“, gibt Scharla zu bedenken.
Eine aktuelle, nur als Preprint vorliegende Studie, in die 6.200 Erwachsene aus Großbritannien einbezogen wurden, ergab keinen Zusammenhang zwischen der Gabe von Vitamin D über 6 Monate bei Probanden mit einem Vitamin-D-Mangel (Vitamin-D-Spiegel <75 nmol/l) und dem Risiko, an COVID-19 oder einer anderen Atemwegserkrankungen zu erkranken. Die Studie wurde von mehreren Firmen unterstützt, die Vitamin-D-Präparate vertreiben. Das Ergebnis stimmt jedoch mit den Resultaten anderer Studien überein, in denen kein Zusammenhang zwischen einem Mangel an Vitamin-D und dem Risiko, an Corona zu erkranken, gefunden wurde.
„Insgesamt sind die Ergebnisse zu COVID-19 und Vitamin D gemischt“, fasst Scharla zusammen. „Zu bedenken ist auch, dass die Fallzahlen der Studien oft klein waren. Weiterhin waren die Vitamin-D-Gaben oft unterschiedlich hoch, so dass die Ergebnisse schwer zu vergleichen sind.“ Auch hier seien im Grunde große, kontrollierte Interventionsstudien nötig, um kausale Effekte nachzuweisen. „Diese sind aus ethischen Gründen jedoch schwer umzusetzen“, so der Endokrinologe. „Darüber hinaus werden Effekte durch die immer größere Zahl Geimpfter und die milderen Verläufe bei der Omikron-Variante zunehmend schwerer nachzuweisen sein.“
Es gebe jedoch Belege, dass Vitamin D einen schützenden Effekt bei Atemwegserkrankungen hat. „Auf Basis dieser Ergebnisse und der vorläufigen Ergebnisse zu COVID-19 kann es aus meiner Sicht für Risikogruppen für einen schweren COVID-19-Verlauf sinnvoll sein, Vitamin D in den Wintermonaten vorbeugend einzunehmen“, sagt Scharla. „Denn in niedriger Dosierung schadet es nicht und könnte vor einem schweren Erkrankungsverlauf schützen.“
Generell sei es auf jeden Fall wichtig, einen Mangel an Vitamin-D zu vermeiden, da er das Risiko für eine Reihe von Erkrankungen erhöhe, so der Facharzt. „Ein weiteres wichtiges Argument für die Einnahme von Vitamin D ist die Erhaltung der Knochengesundheit“, sagt Scharla. „So haben insbesondere ältere Menschen, Diabetes-Patienten und Menschen mit geringer Sonnenexposition und eingeschränkter Mobilität ein erhöhtes Risiko für einen Vitamin-D-Mangel sowie für Osteoporose.“
Eine vorbeugende Einnahme von Vitamin D sei vor allem sinnvoll, wenn das individuelle Risiko eines Vitamin-D-Mangels hoch sei. „Das ist insbesondere bei Vorerkrankungen und bei älteren Menschen der Fall, deren Haut nicht mehr so viel Vitamin D produzieren kann“, sagt Scharla. „Ich würde ab etwa 60 Jahren die Einnahme in den Wintermonaten – von Oktober bis März – und ab 70 Jahren auch das ganze Jahr über empfehlen.“ Sinnvoll sei zur Vorbeugung eine tägliche Dosis von 1.000 bis 2.000 IE. „Eine Hochdosistherapie, etwa in Form von Bolus-Gaben, ist dagegen nicht zu empfehlen“, betont der Endokrinologe. „Hier gibt es Hinweise darauf, dass diese sogar schädlich sein kann.“
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