Die Diagnostik und Therapie des ADHS sind umstritten. Ein besseres Verständnis des Syndroms könnte durch Forschung an einem passenden Tiermodell erreicht werden: Dem Hund.
Jeder kennt sie: Besonders aufgedrehte Hunde, deren Aufmerksamkeitsspanne auffällig kurz erscheint. Auch so mancher Tierhalter mag überzeugt sein: „Ich glaube, mein Hund hat ADHS“. Forscher aus Finnland zeigten nun, dass Hunde tatsächlich eine beim Menschen als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bezeichnete Symptomatik zeigen können – und die Gemeinsamkeiten sind groß.
Das ADHS ist eine vererbbare, vor allem bei Kindern auftretende neurologische Entwicklungsstörung, die mit Konzentrationsstörungen, motorischer Hyperaktivität und gesteigerter Erregbarkeit einhergeht. Die Ausprägung und Verteilung der verschiedenen Symptome kann stark variieren und sich mit zunehmendem Alter der Betroffenen verändern.
Nach DSM-IV-Kriterien kann das ADHS in drei verschiedene Erscheinungsformen eingeteilt werden: den Mischtyp, bei dem sowohl Aufmerksamkeitsdefizit als auch Hyperaktivität und Impulsivität vorhanden sind, als auch den vorwiegend unaufmerksamen Typ und den vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typ.
Häufig bleibt das ADHS bis ins Erwachsenenalter bestehen und geht mit verschiedenen Komorbiditäten wie Lernstörungen, Autismus-Spektrum-Störungen und Angststörungen einher. Die medikamentöse Behandlung ist, ebenso wie die Diagnose selbst, umstritten und wird auch innerhalb medizinischer Fachkreise kontrovers diskutiert. Ein besseres Verständnis des ADHS könnte durch Forschung an einem passenden Tiermodell erreicht werden – und an diesem Punkt kommen die Hunde ins Spiel.
Impulsivität, eine Komponente des ADHS beim Menschen, ist gekennzeichnet durch eine gestörte Hemmungskontrolle und die Unfähigkeit, einen Belohnungsaufschub zu tolerieren. In einer gewissen Ausprägung ist sie bei allen Spezies, einschließlich Menschen und Hunden, zu beobachten. Ein hohes Maß an Impulsivität gilt jedoch als abnormal und konnte bei mehreren Spezies (Nagetiere, Hunde, Menschen) mit schädlichen Verhaltensweisen wie Aggression in Verbindung gebracht werden.
Auch Haushunde können erhöhte Aktivität/Impulsivität sowie Unaufmerksamkeit zeigen. Studien deuten darauf hin, dass etwa 15 bis 20 % der Hunde von Natur aus ein hohes Maß an Hyperaktivität/Impulsivität bzw. Unaufmerksamkeit aufweisen. Außerdem scheinen diese Merkmale sowohl bei Hunden als auch bei Menschen durch dieselben verhaltensbezogenen, biologischen und genetischen Faktoren vermittelt zu werden. Eine weitere Gemeinsamkeit: Hunde scheinen auf die selben Medikamente anzusprechen, die zur Behandlung des ADHS beim Menschen eingesetzt werden.
Mit ihrer Forschungsarbeit wollten Sini Sulkama und ihr Team ein besseres Verständnis der demografischen, umweltbedingten und verhaltensbezogenen Faktoren bekommen, die Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit bei Hunden beeinflussen können. Hierfür erhoben sie umfassende Verhaltensdaten von mehr als 11.000 finnischen Haushunden.
Um passende Kandidaten für ihre Studie zu finden, verwendeten die Wissenschaftler u. a. Hunde-ADHS-Fragebögen, die von den Besitzern ausgefüllt wurden und in einer anderen Arbeit bereits validiert werden konnten. Dort konnten ausgeprägte Impulsivität und Unaufmerksamkeit bereits mit einer schlechteren Leistung bei kognitiven Aufgaben in Verbindung gebracht werden. Der Fragebogen orientiert sich an einer Rating-Skala zur Messung des ADHS bei Kindern, die von Eltern ausgefüllt wird.
Die Besitzer beantworteten Fragen zu sieben verschiedenen Verhaltensmerkmalen ihrer Hunde: Angst, Aggressivität, Lärmempfindlichkeit, Oberflächen- und Höhenangst, Hyperaktivität/Impulsivität, Unaufmerksamkeit, trennungsbezogenes Verhalten und zwanghaftes Verhalten. Darüber hinaus enthielt der Fragebogen einen umfangreichen Teil mit demografischen und umweltbezogenen Fragen zur Lebensgeschichte des Hundes. Die Hundebesitzer wurden gebeten, auf einer vierstufigen Likert-Skala zu beantworten, wie oft die jeweilige Aussage auf ihren Hund zutrifft (1 = nie, 2 = selten, 3 = oft, 4 = sehr oft). Insgesamt konnten 22 Rassen mit ausreichender Stichprobengröße sowie Mischlingshunde in die Auswertung mit einbezogen werden. Weitere Rassen wurden unter „Sonstige“ zusammengefasst. Außerdem wurden die Rassehunde in kleine, mittlere und große Hunde eingeteilt.
Die Forscher wählten vierzehn beschreibende Variablen für die Analysen aus: Alter, Geschlecht, Kastrationszustand, Rasse, Körpergröße (demografische Variablen), Entwöhnungsalter, Aktivität/Training, tägliche Bewegung, Hundeerfahrung des Besitzers, täglich allein verbrachte Zeit, städtische Umgebung (Umweltvariablen), zwanghaftes Verhalten, Ängstlichkeit und Aggressivität (Verhaltensvariablen).
Das Alter der Hunde reichte von 2 Monaten bis zu 17,9 Jahren, mit einem Mittelwert von 4,7 Jahren. 51 % der Hunde waren weiblich.
Zwischen den verschiedenen Hunderassen stellten die Autoren signifikante Unterschiede bei den Werten für Hyperaktivität/Impulsivität fest. Die Rassen mit den höchsten Scores waren hier Cairn Terrier, Jack Russell Terrier, Deutscher Schäferhund und Staffordshire Bull Terrier. Die Rassen mit den niedrigsten Scores waren Chinese Crested Dog, Rough Collie und Chihuahua.
Wie vorher vermutet, waren die Werte für Hyperaktivität/Impulsivität bei jungen Hunden am höchsten; auch männliche Hunde wiesen höhere Werte auf als weibliche. Es bestand auch einen Zusammenhang zwischen Körpergröße und Hyperaktivität/Impulsivität: Mittelgroße Hunde wiesen hier höhere Werte auf als kleine oder große Hunde.
Hunde, die weniger täglichen Auslauf bekamen und mehr Zeit alleine verbrachten, zeigten ebenfalls höhere Werte für Hyperaktivität/Impulsivität. Je mehr Bewegung ein Hund bekam, desto niedriger war hier sein Score. Ebenso verhielt es sich mit dem Training. Auch beim Faktor Betreuung überraschten die Ergebnisse nicht: Hunde, die mehr als 8 Stunden täglich alleine waren, hatten die höchsten Scores für Hyperaktivität/Impulsivität; die Werte nahmen auch hier ab, je weniger ein Hund alleine war. Interessant war der Faktor Erfahrung beim Besitzer: Wenn der Hund nicht der erste Hund des Besitzers war, war die Wahrscheinlichkeit höher, dass er einen höheren Hyperaktivitäts-/Impulsivitätswert aufwies. Das könnte natürlich damit zusammenhängen, dass sich Unerfahrene eher einen ruhigen Hund als Ersthund zulegen oder, dass erfahrene Hundebesitzer das abgefragte Verhalten besser bei ihrem Hund erkennen konnten.
Auch in den Scores für Unaufmerksamkeit stellten Sulkama et al. signifikante Unterschiede zwischen den Hunderassen fest. Die Rassen mit den höchsten Werten waren Cairn Terrier, Golden Retriever und Finnischer Lapplandhund. Die Rassen mit den niedrigsten Werten waren Spanischer Wasserhund, Zwergpudel und Border Collie. Wie zu erwarten, waren die Werte für Unaufmerksamkeit bei jungen Hunden am höchsten. Signifikante Unterschiede wurden ebenfalls zwischen den Geschlechtern festgestellt: Rüden wiesen höhere Unaufmerksamkeitswerte auf als Hündinnen. Bei der Zeit alleine zu Hause verhielten sich die Scores ähnlich wie bei der Impulsivität/Hyperaktivität: Hunde, die mehr Zeit alleine verbrachten und seltener an Aktivitäten und Trainings teilnahmen, hatten höhere Unaufmerksamkeitswerte. Zu erkennen war, dass auch Hunde, die zwar nicht täglich, aber immerhin ab und zu an Aktivitäten und Trainings teilnahmen, eine bessere Aufmerksamkeit aufwiesen, als Hunde, bei denen das nie der Fall war.
Auch schienen höhere Werte für Unaufmerksamkeit mit zwanghaftem, aggressivem oder ängstlichem Verhalten zu korrelieren.
Mehrere demografische Faktoren wurden mit Hyperaktivität/Impulsivität und Unaufmerksamkeit in Verbindung gebracht, darunter Alter, Geschlecht und Körpergröße. Alle Merkmale traten am häufigsten bei jungen Hunden auf und schienen mit dem Alter abzunehmen – Hyperaktivität/Impulsivität jedoch etwas stärker als die Unaufmerksamkeit.
Auch beim Menschen ist das ADHS eine Erkrankung, die in der Kindheit auftritt und bei Jungen häufiger vorkommt als bei Mädchen. Der Grund für diesen Geschlechtsunterschied sei bisher jedoch unklar, so die Autoren. Als Auslöser wurden Steroidhormone vorgeschlagen: Hohe Testosteronspiegel während der Schwangerschaft könnten das dopaminerge System beeinträchtigen und Jungen potenziell für ein ADHS prädisponieren. Diese pränatalen hormonellen Auswirkungen sind bei Hunden noch nicht untersucht worden.
Frühere Untersuchungen legten nahe, dass kleine Hunde impulsiver sind. Sulkama et al. beobachteten jedoch bei mittelgroßen und großen Hunden höhere Werte für Hyperaktivität/Impulsivität. Sie schreiben:„ Wright, Mills & Pollux vermuten, dass ihre Ergebnisse auf mehrere aktive kleine Terrierrassen zurückzuführen sind. In ähnlicher Weise umfasste unsere Studie mehrere mittelgroße Arbeitshunderassen, was möglicherweise den beobachteten Zusammenhang zwischen höherer Impulsivität und mittlerer Körpergröße erklärt.“ Diese Rassen würden auf erhöhte Aktivität, Wachsamkeit und Aufmerksamkeit gezüchtet, um ihre Eigenschaften als Arbeitshunde zu maximieren. Bei der Anpassung ihres Modells an die Körpergröße sei jedoch festgestellt worden, dass die hyperaktivsten/impulsivsten Rassen Hunde aller Größen umfassten und sich viele Rassen signifikant voneinander unterschieden. Die Unterschiede zwischen den Rassen ließen sich also nicht nur durch Größenunterschiede erklären. Das deute auf einen genetischen Ursprung für Hyperaktivität/Impulsivität hin.
Geringe tägliche Bewegung und seltene Teilnahme an Aktivitäten und Training wurden in der Studie mit höheren Hyperaktivitäts-/Impulsivitätswerten bzw. höheren Unaufmerksamkeitswerten in Verbindung gebracht.
Bewegung und Beschäftigung können Mittel sein, um die artspezifischen Bedürfnisse von Hunden zu erfüllen. Bei Aktivitäten und Trainings können sie ihre Energie und Frustration auf kontrollierte Weise abbauen. Die Autoren halten jedoch auch einen anderen Zusammenhang für denkbar: „Es ist auch möglich, dass die Besitzer nicht bereit sind, mit unaufmerksamen Hunden zu trainieren [...], da das Training mit ihnen aufgrund der Konzentrationsschwierigkeiten [...] unangenehm und unbefriedigend sein kann.“ Studien, in denen die Auswirkungen von Bewegung auf das ADHS beim Menschen untersucht wurden, seien spärlich und hätten nur kleine Stichprobengrößen – aber bei Kindern mit ADHS zeigten Meta-Analysen, dass körperliche Bewegung Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit bis zu einem gewissen Grad lindern könne.
Erstmals konnte außerdem ein Zusammenhang mit der allein zu Hause verbrachten Zeit und den ADHS-Merkmalen beobachtet werden. Die Autoren mutmaßen: „Da Hunde soziale Tiere sind, können sie gestresst oder frustriert sein, wenn sie für längere Zeit allein gelassen werden. Dieser Stress und diese Frustration können sich in hyperaktivem, impulsivem und unaufmerksamem Verhalten äußern.“ Es sei jedoch auch möglich, dass Hunde, die mehr Zeit allein verbringen, auch sonst weniger Aufmerksamkeit und Bewegung von ihren Besitzern erhalten. Über einen echten Zusammenhang und eine Kausalität zwischen der allein verbrachten Zeit und hyperaktivem/impulsivem und unaufmerksamen Verhalten könne nur spekuliert werden.
Beim Menschen wird Impulsivität – eine Schlüsselkomponente des ADHS – auch mit aggressivem Verhalten in Verbindung gebracht. Auch Zwangsstörungen treten beim Menschen häufig gemeinsam mit dem ADHS auf. Beide Erkrankungen sind durch eine gestörte Hemmungskontrolle gekennzeichnet. Der komorbide Zusammenhang zwischen Hyperaktivität/Impulsivität und Aggressivität, Ängstlichkeit und zwanghaftem Verhalten könnte auf gemeinsame zugrunde liegende neurobiologische Bahnen und Hirnstrukturen hinweisen, die an diesen Merkmalen beteiligt sind. Ein ähnlicher Zusammenhang konnte auch bei manchen Hunden beobachtet werden. Hierzu bedarf es aber noch an weiterer Forschung.
Die Ergebnisse von Sulkama et al. deuten darauf hin, dass verschiedene Rassen für die Modellierung der unterschiedlichen Erscheinungsformen des ADHS nützlich sein könnten. Der Cairn Terrier etwa könnte ein geeignetes Modell für das ADHS sein, da er einen hohen Score sowohl für Hyperaktivität/Impulsivität als auch für Unaufmerksamkeit aufwies. Dazu kamen hohe Werte für zwanghaftes Verhalten und Aggressionskomorbiditäten.
Auch für einzelne Teilaspekte ergaben sich passende Rassen: Der Spanische Wasserhund mit niedrigem Score für Unaufmerksamkeit, aber hohen Werten für Hyperaktivität/Impulsivität, zusammen mit Komorbiditäten wie Ängstlichkeit, beispielsweise. Oder aber der Labrador Retriever könnte, mit niedrigen Scores bei beiden Merkmalen und sehr seltenen komorbiden Verhaltensweisen wie Ängstlichkeit, Aggression und zwanghaftem Verhalten, als Vergleichsgruppe dienen. Weitere Forschung innerhalb der Rassen wäre hilfreich, um genetische und biologische Faktoren aufzudecken.
Die Arbeit von Sulkama und ihrer Arbeitsgruppe brachte aber auch einige Einschränkungen mit sich. So sind selbst ausgefüllte Fragebögen stets subjektiv beantwortet. Außerdem wurden Arbeits- und Austellungslinien einer Rasse nicht getrennt erfasst.
Die Forscher aus Finnland fassen zusammen, dass Hyperaktivität/Impulsivität und Unaufmerksamkeit bei Hunden mit verschiedenen demografischen, umweltbedingten und verhaltensbezogenen Faktoren in Verbindung stehen. Ihre Ergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass eine starke genetische Grundlage besteht. Sie sehen daher den Hund als geeignetes Tiermodell für das ADHS beim Menschen an. „Ähnliche Verhaltenskomorbiditäten bei Hyperaktivität/Impulsivität und Unaufmerksamkeit bei Hunden und ADHS beim Menschen bestärken die Hypothese, dass hier bei beiden Spezies gemeinsame neurobiologische Wege zugrunde liegen.“ Die Ähnlichkeiten in der Genetik, der Physiologie und dem Lebensumfeld von Hunden und Menschen machten ihrer Meinung nach den Hund zu einem geeigneten Modell für das ADHS und Erkenntnisse über beeinflussende Faktoren bei Hunden können auch der ADHS-Forschung beim Menschen zugute kommen.
Die Originalpublikation findet ihr hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Oscar Sutton, unsplash.