Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus sind ein möglicher Auslöser für die Multiple Sklerose – und somit auch ein möglicher Angriffspunkt für kausale MS-Therapien. Erste klinische Ergebnisse machen Hoffnung.
Die Entdeckung des Epstein-Barr-Virus (EBV) als der mögliche Auslöser von Multipler Sklerose gleicht einer Sensation auf dem Forschungsgebiet der neuroimmunologischen Erkrankungen. Die Zusammenhänge sind weiterhin nicht eindeutig geklärt und auch über die Ursache gibt es aktuell nur hypothetische Überlegungen. Dass EBV jedoch an der Entstehung einer ganzen Reihe lymphoproliferativer Erkrankungen beteiligt ist, gilt als unbestritten. Grund hierfür sind vor allem die mit EBV befallenen B-Lymphozyten, welche auch nach dem Abheilen einer akuten EBV-Infektion – der Mononukleose oder auch Pfeiffer’sches Drüsenfieber – ein Leben lang nachweisbar sind. Bisher existiert weder eine Therapie für das Epstein-Barr-Virus, noch eine kausale Therapie der Multiplen Sklerose. Doch beides könnte schon bald ein Ende haben, vorausgesetzt eine EBV-Infektion ist tatsächlich der wesentliche Auslöser einer MS-Erkrankung.
Eine entsprechende Therapie wird aktuell vom US-amerikanischen Pharmaunternehmen Atara Biotherapeutics Inc. entwickelt. Hinter dem Codenamen „ATA188” versteckt sich eine neurogene T-Zelltherapie, welche auf gegen EBV-Antigene gerichteten T-Zellen beruht. Die Forscher nutzten hierbei T-Zellen von gesunden, EBV-seropositiven Spendern, welchen anschließend verschiedene EBV-Antigene (EBNA1, LMP1/2) präsentiert wurden. So entstanden spezifische, gegen EBV gerichtete T-Zellen, welche anschließend vervielfältigt und ihrem HLA-Muster entsprechend in eine Datenbank einsortiert wurden. In vivo sollen diese T-Zellen dann gezielt mit EBV infizierte B-Lymphozyten angreifen. Die Empfänger wurden vor der Behandlung ebenfalls auf ihr HLA-Muster untersucht, um möglichst ähnliche Zellreihen für die Spende auswählen zu können und eine Graft-versus-Host-Reaktion zu vermeiden.
2017 begann schließlich die klinische Phase-I-Studie, deren Ergebnisse auf dem ECTRIMS-Kongress (European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis) Ende 2021 vorgestellt wurden. 25 Patienten mit progressiver MS-Verlaufsform (PPMS oder SPMS) wurden eingeschlossen und zunächst über 12 Monate beobachtet. Aufgrund der vielversprechenden Ergebnisse wurde den Patienten angeboten, die Studie auf knapp 4 Jahre zu verlängern – was 18 der Probanden auch annahmen. Die Patienten erhielten jährlich eine ATA188-Infusion und ihre motorischen Funktionen wurden mittels etablierten Untersuchungsmethoden wie dem Expanded Disability Status Scale (EDSS) und dem 25 Foot-Walk verglichen. Zudem wurden kranielle Verlaufs-MRTs durchgeführt und die Magnetization-Transfer-Ratio (MTR) (ein Parameter, der die Integrität und den Myelinisierungsgrad des Hirngewebes angibt) vor und nach dem Beobachtungszeitraum gemessen.
Von den initial 25 Probanden brach ein Patient die Studie aufgrund einer klinischen Verschlechterung ab, weshalb nur die Ergebnisse von 24 Patienten ausgewertet wurden. Hiervon wiesen 9 Patienten eine anhaltende Verbesserung der motorischen Funktionen auf; 7 davon für die 12 Monate des ursprünglich geplanten Beobachtungszeitraums und 2 auch über den verlängerten Zeitraum hinaus. Diese Patienten wiesen ebenfalls eine höhere MTR in der Verlaufs-MRT nach 12 Monaten auf, was als Zeichen einer möglichen Remyelinisierung gewertet wurde. Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse traten während des Beobachtungszeitraums nicht auf. Es gab lediglich Meldung zweier möglicher Nebenwirkungen, welche jedoch nach Analyse der Studienärzte eher nicht der ATA188-Therapie zuzuordnen waren. Die Studienleiter schlossen hieraus, dass eine Therapie mit ATA188 bei MS-Patienten sicher und potenziell effektiv ist, was die Voraussetzung für weitere klinische Studien darstellt.
Aufgrund des kleinen Studienkollektivs ist die Aussagekraft der Studienergebnisse und der beobachteten Nebenwirkungen natürlich eingeschränkt. Eine akute Infusionsreaktion oder ein Zytokin-Freisetzungssyndrom, wie es bei anderen Infusionstherapien vorkommt, ist als mögliche lebensgefährliche Nebenwirkung durchaus denkbar. Auch eine Graft-versus-Host-Reaktion ist möglich, bei immunkompetenten MS-Patienten jedoch eher unwahrscheinlich.
Ob solche unerwünschten Ereignisse auftreten und man an die positiven Ergebnisse der ersten Studie anknüpfen kann, soll nun eine Phase-2-Studie (EMBOLD) klären. Bis zu 200 Patienten sollen hierbei über 5 Jahre Placebo-kontrolliert therapiert und beobachtet werden. Es sind zudem bereits Studien geplant, die auch Patienten mit schubförmiger MS-Verlaufsform einschließen sollen.
Parallel arbeiten die Forscher an weiteren T-Zell-Therapien wie Tabelecleucel, welches bei EBV-assoziierten Lymphomen wie dem Posttransplantations-Lymphom zum Einsatz kommen soll. Dabei kommen sowohl bei der MS, als auch bei vielen lymphoproliferativen Erkrankungen, bereits B-Zell-depletierende Therapien zum Einsatz (bspw. Rituximab). Diese weisen zwar eine insgesamt gute Wirksamkeit auf, gehen jedoch aufgrund ihrer stark immunmodulatorisch und -suppressiven Effekten mit deutlichen Nebenwirkungen einher. Bei einer gezielten Therapie, die sich nur gegen die pathologischen B-Zellen richtet, wäre dies vermutlich anders.
Die weiteren Entwicklungen auf dem Gebiet der direkten EBV-Therapien dürften somit nicht nur von Neurologen mit größter Spannung verfolgt werden – würde doch ein Therapieerfolg auch die EBV-Theorie zur Pathophysiologie der Multiplen Sklerose unterstützen.
Quellen:
ECTRIMS-Poster:
https://ectrims2021.abstractserver.com/program/#/details/presentations/505
EMBOLD-Studie:
https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03283826
https://www.emboldms.com/Index.aspx
Tabelecleucel:
https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT04554914
https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03394365
https://www.atarabio.com/pipeline/tabelecleucel/
Bildquelle: the blowup, unsplash