Zweifelsohne ist die Situation des deutschen Pflegepersonals flächendeckend katastrophal. Statistiker aus Berlin finden aber Zahlen, die aufmuntern sollen. Ein Kommentar.
Fangen wir mit dem großen „Aber“ an. Laut statistischem Bundesamt ist die Zahl der Beschäftigten im Pflegedienst in Kliniken in den vergangenen 10 Jahren um 18 % gestiegen. Die Zahl der Pflegekräfte in Heimen und ambulanten Diensten wuchs von 2009 bis 2019 sogar um 40 % – trotz Corona, Mehrbelastung und all den anderen Mängeln, die das das Pflegesystem noch aufweist.
Die reinen Statistiken sagen also: 486.100 Beschäftigte in Krankenhäusern und 954.000 Pflegekräfte in Heimen und ambulanten Diensten. Klingt erst mal nach dem richtigen Trend. Zweierlei darf dabei nicht vergessen werden: die Umstände und die Vertragssituationen, in denen die Menschen arbeiten.
Denn genau da kommt das Geschmäckle an der geplanten „Aufwärtsspirale“ her: So arbeiten beispielsweise 65 % der Pflege- und Betreuungskräfte entweder geringfügig oder in Teilzeit. Auch in Deutschlands Krankenhäusern ist das pflegende Personal zur Hälfte (49 %) nicht im Vollzeitjob.
Auch die Bundesagentur für Arbeit unterstreicht in ihrem aktuellen Bericht zur Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich, dass die Zahlen noch keineswegs ausreichend seien und – im Gegenteil – im Ausland nach qualifiziertem Personal gesucht wird. In dem Bericht heißt es:
„Vor dem Hintergrund des bereits bestehenden und weiter steigenden Bedarfs an Fachkräften in der Pflege könnte neben der Gewinnung von Fachkräften aus dem Ausland eine Ausweitung des Arbeitszeitvolumens der vielen Teilzeitkräfte in der Pflege einen Beitrag zur Deckung der Fachkräftenachfrage leisten.“
Und wenn auch mit ambitionierten Plänen im Koalitionsvertrag sozusagen an der Quelle Besserung gelobt wird, liegen grade hier in der praktischen Umsetzung die Probleme. „Ja, an der Ausbildung wird gefeilt und die Vergütung ist sogar nicht schlecht. Doch davon kommt auf den Stationen weit weniger an, als verkauft wird. Von vielen Seiten weiß ich, dass die Personen nach der Ausbildung in ein Studium oder andere Stellen wechseln, die dann auch ‚on the job‘ noch mit guten Verdiensten locken. On top kommt, dass die Arbeitszeitmodelle, wie sie sind, enorm abschrecken und das insbesondere in der Zeit von Work-Life-Balance nicht mehr miteinander vereinbar ist“, sagt Jule Kirschbaum, Gesundheits- und Krankenpflegerin am Universitätsklinikum Düsseldorf.
Das gleiche Bild zeichnet sich in der Frage der Vergütung ab. So verkünden die Statistiker aus Berlin einen Anstieg des Gehalts auf durchschnittlich 3.697 Euro brutto pro Monat für Gesundheits- und Krankenpfleger. Gleichzeitig verdienen Fachkräfte in Pflegeheimen 3.430 Euro, Fachkräfte in Altenheimen landen bei 3.327 Euro. Besonders hervorzuheben: Für Vollzeitbeschäftigte in Krankenhäusern ist das Gehalt in den vergangenen 10 Jahren um satte 34 % gestiegen – wie viel Vollzeitbeschäftigung es im Sektor gibt, haben wir ja bereits erörtert.
Ob das also Geld ist, das „verdient“ oder gar ausreichend ist, beantwortet der Plan der Politik, die Mindestlöhne Pflegekräfte ab dem 1. September 2022 schrittweise „spürbar“ zu steigern. Und so verwundert es auch nicht, dass sich Widerstand regt, wie das gegenwärtige Beispiel in NRW zeigt. Dort streiken seit einigen Tagen die Pflegekräfte an den Unikliniken – wenn auch nicht (nur) mit der Hoffnung auf monetäre Besserung.
„Ein Streik kann in keinem Fall falsch sein. Es fehlt und mangelt an so vielen Stellen des Pflegesystems, dass man darauf im Grunde dauerhaft aufmerksam machen sollte. Ob der Plan von Verdi eines Zusatztarifs echte Linderung verschafft – wenn er denn überhaupt so umgesetzt wird –, bleibt aber mal dahingestellt. Fest steht nur der Status Quo und der lautet: Es gibt Stationen mit so wenig Personal, dass 30 Betten von 2 Schwestern betreut werden müssen – von der dann auch nur eine tatsächlich von der Station kommt und die Patienten kennt und die andere eine tagesweise Aushilfe ist“, beschreibt Kirschbaum den beruflichen Alltag.
Und darum geht’s bei dem Plan von Verdi: Gefordert wird in erster Linie ein zusätzlicher Tarifvertrag, in dem zum Beispiel konkrete Personalzahlen für Pflegekräfte auf Stationen festgeschrieben werden – Stichwort Arbeitszeitmodelle und Personalsituation. Doch das ist für die Politik nicht ganz so einfach umzusetzen, denn als Teil der „Tarifgemeinschaft deutscher Länder“ ist auch NRW an die einheitlichen Regelungen gebunden.
Die mögliche Lösung, die aus Düsseldorf nun angeboten wird: Die betroffenen Universitätsklinken treten aus der Tarifgemeinschaft aus und verhandeln bilateral mit Verdi. Doch auch dazu müsse zunächst das NRW-Hochschulgesetz geändert werden, das die Mitgliedschaft verpflichtend macht – und das kann frühestens nach den Landtagswahlen auf den Weg gebracht werden. Welche politischen Mehrheiten dann herrschen und ob der Plan von NRW-Gesundheitsminister Laumann (CDU) dann noch auf dem Tableau steht, wird man dann sehen.
In der Zwischenzeit gehen die Streiks weiter und weiter und weiter. Und womit? Mit Recht.
Bildquelle: Sarah Kilian, unsplash.