Nach 30 Jahren Forschung ist das Rätsel um die Struktur des hochpotenten Antibiotikums Albicidin gelöst. Die Erkenntnisse legen den Grundstein für die Entwicklung von neuen Antibiotikawirkstoffen gegen multiresistente Keime wie Chinolon-resistente E. coli-Stämme.
Albicidin wurde erstmals 1985 von einer US-amerikanischen und australischen Gruppe beschrieben, die an der Zuckerrohrpflanze forschte. Sie konnte zeigen, dass das Bakterium „Xanthomonas albilineans“ Zuckerrohr befällt und durch die Freisetzung des Metaboliten Albicidin die Entwicklung der Blattstreifigkeit hervorruft, einer Krankheit des Zuckerrohrs, die zum Absterben der Pflanze führt (sugarcane leaf scald disease). Zunächst bildet die Pflanze die namensgebenden weißen Streifen auf seinen Blättern aus und stirbt dann ab.
Die Infektion mit dem Erreger „Xanthomonas albilineans“ ist die häufigste bakterielle Erkrankung des Zuckerrohrs. Der stark krankheitsanfälligen Kultivierung des Zuckerrohrs steht heute ein stetig wachsender weltweiter Bedarf gegenüber: 1,8 Milliarden Tonnen allein im Jahr 2012 für die Herstellung von Zucker und Bioethanol. Doch eine weitere Eigenschaft des Albicidin, neben seiner Funktion bei der Entwicklung der Blattstreifigkeit, hat die Forscher in den letzten Jahrzehnten besonders fasziniert: seine starke antibakterielle Wirkung, insbesondere gegen gramnegative Bakterien. Obwohl keinerlei profundes Wissen über die Struktur des Albicidins bekannt war, wirkten Präparationen, die Albicidin enthielten, sehr stark gegen eine Vielzahl humanpathogener Keime, also gegen Erreger, die beim Menschen Krankheiten hervorrufen.
Albicidin ist in der Lage, die Vervielfältigung der bakteriellen DNA zu blockieren, allerdings auf einem anderen Weg als herkömmliche Antibiotika aus diesem Wirkbereich, und dadurch deutlich potenter. Genauere Kenntnisse zur molekularen Struktur des Albicidins, die unabdingbar sind, um diese Eigenschaft dem Menschen nutzbar zu machen, fehlten allerdings bisher.
30 Jahre nach der Erstbeschreibung des Albicidins, ist es Forschern um Prof. Dr. Roderich Süssmuth von der TU Berlin mit Dr. Monique Royer und Dr. Stéphane Cociancich vom CIRAD Institut in Montpellier nun gelungen, dessen Struktur endgültig aufzuklären: Es handelt sich bei Albicidin um ein äußerst ungewöhnliches lineares Acyl-Peptid mit einem auffälligem Muster untypischer aromatischer nicht-proteinogener Aminosäuren. Zusätzliche biosynthetische Analysen konnten die Strukturaufklärung weiter untermauern und aufzeigen, dass nicht nur die molekulare Struktur des Albicidins, sondern auch dessen Biosynthese in „Xanthomonas albilineans“ bisher einzigartig sind. Zudem ist es in einer Folgepublikation gelungen, die nicht triviale chemische Synthese dieses komplexen Moleküls zu beschreiben, die die Grundlage für die weitere Forschung an Albicidin bilden wird.
Außerdem konnte gezeigt werden, dass Albicidin resistenzbrechend ist und gegen Chinolon-resistente Escherichia coli-Stämme eine unveränderte Aktivität aufweist. Dies ist von besonderer Bedeutung, da Chinolone als Breitbandantibiotika in der Medizin vielfältig eingesetzt werden können, zum Beispiel bei der Behandlung von Anthrax. Es treten jedoch vermehrt Resistenzen auf, ein Umstand der den Bedarf an neuen Antibiotika mit ähnlichem Wirkspektrum zusätzlich erhöht. Diese Ergebnisse sind das Produkt einer engen interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Pflanzenphysiologen, Naturstoff- und Synthesechemikern sowie Molekularbiologen.
„Das zeigt, dass es sich lohnt, gerade an schwierigen und komplexen Problemen mehrere Jahre intensiv und mit Hochdruck zu arbeiten“, so Prof. Dr. Roderich Süssmuth. „Ohne die Förderung durch den deutschen Exzellenzcluster ‚UniCat‘, der an der TU Berlin angesiedelt ist, und die französische ANR wäre es nicht möglich gewesen, das Projekt erfolgreich zu bearbeiten.“ Eine Förderung durch ein DFG-Projekt im Normalverfahren war zunächst nach zwei Jahren eingestellt worden. Für eine mögliche marktwirtschaftliche Verwertung haben die Forscherinnen und Forscher ein umfangreiches Patent verfasst.
„Wir haben neben wirtschaftlichen Aspekten der Patentverwertung, von der die TU Berlin profitieren würde, geradezu die moralische Verpflichtung bei dem derzeit dringenden Bedarf an neuen Antibiotika, eine Entwicklung des Wirkstoffes voranzutreiben“, meint Professor Süssmuth. „Allerdings stellt ein solches Vorhaben eine extrem große Herausforderung dar. Die Hürden für eine Wirkstoffentwicklung liegen sehr hoch.“ Das neue Wissen um Albicidin soll in Zukunft genutzt werden, nicht nur um das Auftreten der Blattstreifigkeit im Zuckerrohr besser zu verstehen, sondern aus der neuen Leitstruktur des Albicidins einen Wirkstoff für den Einsatz gegen bakterielle Infektionen mit gramnegativen Bakterien zu entwickeln. Originalpublikation: The gyrase inhibitor albicidin consists of p-aminobenzoic acids and cyanoalanine Stéphane Cociancich et al.; nature chemical biology, doi: 10.1038/nchembio.1734; 2015