Für chronischen Pruritus kommen viele Ursachen in Frage – Spurensuche und Therapie sind für Ärzte knifflig. Die neue Leitlinie zum Thema bringt Licht ins Dunkel. Wir haben für euch reingeschaut.
Jucken ist lästig – aber ähnlich wie Schmerz hat es eine wichtige Warnfunktion für den Körper. So kann ein Insekt oder Teile einer Pflanze wie Brennesselhärchen Juckreiz auslösen. Kratzen kann in diesem Fall sinnvoll sein, um den Fremdkörper zu entfernen. Hält der Juckreiz (Pruritus) länger als sechs Wochen an, spricht man auch von chronischem Juckreiz oder chronischem Pruritus (CP).
Experten unter Federführung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft e. V. (DDG) haben nun eine neue S2k-Leitlinie veröffentlicht, die ausführliche Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie von chronischem Juckreiz gibt. Sie richtet sich an Experten aus verschiedenen ärztlichen Fachbereichen und soll dazu beitragen, die Diagnostik und Behandlung von anhaltendem Juckreiz zu verbessern und zu standardisieren. An der Erstellung waren Experten aus 17 Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt, Patienten wurden über Fokusgruppen eingebunden. Die Leitlinie aktualisiert die seit 2005 bestehende Version – die erste Leitlinie zu chronischem Juckreiz weltweit.
Etwa 13 bis 17 Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden unter chronischem Juckreiz. Er führt zu erheblichem körperlichem und psychischem Leiden, ist mit einer hohen Krankheitslast verbunden und ist oft schwer behandelbar. Laut einer Studie wird nur die Hälfte der Patienten kontinuierlich ärztlich betreut und nur sieben Prozent erhalten eine Therapie. „Viele der Betroffenen haben bei der Suche nach Ärzten eine lange Odyssee hinter sich und finden kaum etwas, was ihnen hilft“, berichtet Prof. Dr. Dr. Sonja Ständer, die Koordinatorin der Leitlinie. Sie ist leitende Oberärztin an der Klinik für Hautkrankheiten des Universitätsklinikums Münster (UKM) und Leiterin des Kompetenzzentrum Chronischer Pruritus (KCP) am UKM. „Hier besteht ein wirklich großer Versorgungsbedarf mit adäquaten Therapien.“
Der Leidensdruck ist bei chronischem Juckreiz oft groß: Jucken ruft automatisch das Verlangen hervor, sich zu kratzen. Das verstärkt jedoch das Problem: Es kommt zu Hautverletzungen und oft entsteht ein Juck-Kratz-Teufelskreis, der Entzündungen aufrecht erhält und immer wieder zu Blutungen, Krusten und schließlich zu Narbenbildung führt. Darüber hinaus leiden die Patienten oft unter psychischen und psychosomatischen Belastungen wie Schlafstörungen, Depressionen, Ängsten und vermindertem Selbstwertgefühl. Viele schämen sich wegen der Hautveränderungen oder fühlen sich stigmatisiert.
All das kann zu sozialem Rückzug und in manchen Fällen auch zu Suizidalität führen. „Die Leitlinie empfiehlt daher ausdrücklich, die subjektive Belastung und die psychischen Auswirkungen der Patientinnen und Patienten für Diagnose und Therapie zu erheben“, sagt Ständer. Diese sollten auch bei der Behandlungsplanung Berücksichtigung finden. So können bei der Anamnese Screening-Fragebögen für Depressionen und Angststörungen eingesetzt werden. Weiterhin kann bei chronischem Juckreiz eine psychosomatische Beratung oder Mitbehandlung sehr sinnvoll sein.
Jucken wird vor allem mit Hauterkrankungen in Verbindung gebracht, etwa mit Neurodermitis oder Schuppenflechte (Psoriasis). „Chronischer Pruritus ist jedoch ein fachübergreifendes Leitsymptom zahlreicher, auch internistischer Erkrankungen“, betont Ständer. So kann er ein Symptom von Diabetes mellitus oder Nierenerkrankungen sein: 25 Prozent der Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz und 3 bis 49 Prozent der Diabetes-Patienten leiden unter chronischem Juckreiz. Auch bei Störungen der Leber- oder Schilddrüsenfunktion, bei Infektionen wie HIV oder Gürtelrose (Herpes Zoster), bei Vitaminmangel oder Eisenmangelanämie sowie bei Tumorerkrankungen kann es zu anhaltendem Juckreiz kommen.
Wichtig ist daher eine interdisziplinäre Diagnostik, die auch auf mögliche körperliche Erkrankungen als Ursachen des Juckreizes achtet. „Dabei ist es sinnvoll, das Symptom Pruritus unabhängig von der Grunderkrankung in den Blick zu nehmen“, sagt die Dermatologin. „Denn oft ist die Denkweise: Wenn die Grunderkrankung behandelt ist, klingt auch der Juckreiz ab. Das ist aber leider oft nicht so. Deshalb ist es wichtig, sowohl die Grunderkrankung als auch den Juckreiz angemessen zu behandeln.“
Wegen der Vielzahl möglicher Ursachen und der individuellen Erscheinungsformen des Juckens sollte immer ein individueller Therapieplan erstellt werden. Dieser sollte die symptomatische Behandlung des Juckreizes, die Therapie der Grunderkrankung und die Behandlung der psychischen und psychosomatischen Folgesymptome umfassen. Wichtig ist also ein fachübergreifender Ansatz, bei dem Ärzte verschiedener Disziplinen zusammenarbeiten: Er kann dazu beitragen, die Qualität der Behandlung und damit auch die Lebensqualität der Patienten zu verbessern.
Die Leitlinie richtet sich daher explizit an Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen: neben Dermatologie und Allergologie auch Innere Medizin, Nephrologie, Hämatologie, Gastroenterologie, Gynäkologie, Psychosomatik sowie Allgemeinmedizin und Pädiatrie. „Sind die Empfehlungen der Leitlinie in der Expertenwelt bekannter, kann auch das zu einer Verbesserung der Therapie beitragen“, sagt Ständer. „In der Praxis findet interdisziplinäres Arbeiten oft bereits statt, zum Beispiel, wenn chronischer Juckreiz bei Dialysepatienten oder bei einer Tumorerkrankung auftritt.“
Bei der Diagnostik wird im ersten Schritt zwischen chronischem Juckreiz auf initial läsionaler Haut, Pruritus auf initial nicht-läsionärer Haut und Pruritus mit Kratzläsionen unterschieden. Im zweiten Schritt wird die zugrunde liegende Erkrankung diagnostisch einbezogen. Weiterhin gibt die Leitlinie evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen für verschiedene Arten von chronischem Juckreiz. Für die symptomatische Therapie können dabei topische und systemische Medikamente sowie UV-Phototherapie eingesetzt werden.
Ob der Juckreiz lokal, etwa mit Cremes, Lotionen oder Salben behandelt wird oder ob eine systemische Medikation oder eine Kombination aus beidem sinnvoll ist, hängt laut Ständer von der Art, Schwere und Ausdehnung des chronischen Juckreizes ab. „Bei einem moderaten bis schweren oder einem sehr ausgedehnten Juckreiz ist eine systemische Therapie zu empfehlen. Das gilt insbesondere, wenn keine Hautläsionen vorhanden sind und die Ursache eher in systemischen Erkrankungen zu vermuten ist“, so die Expertin. „Weiterhin ist bei schweren Kratzläsionen der Haut eine Kombination aus äußerlicher und systemischer Therapie sinnvoll.“ Auch die äußerliche Behandlung ist eine wichtige Säule der Therapie. So können die Betroffenen eine juckreizlindernde Creme oder Lotion bei sich tragen und sie immer dann einsetzen, wenn Juckreiz auftritt – statt sich zu kratzen.
Laut einer Studie lässt sich chronischer Juckreiz mit einer angemessenen Behandlung in 40 Prozent der Fälle unter Kontrolle bringen, bei weiteren 30 Prozent lassen sich zumindest positive Veränderungen erreichen. „Diese Daten wurden vor etwa zehn Jahren erhoben“, sagt Ständer. „Heute liegen die Zahlen vermutlich noch etwas höher.“
Die Leitlinie enthält auch einige geänderte Empfehlungen, etwa zur chronischen Prurigo nodularis, einer seltenen Hautkrankheit mit juckenden Hautknötchen, die meist an den Gliedmaßen auftreten. Hier wird aufgrund neuer Studien das systemische Immunsuppressivum Cyclosporin A empfohlen. Das Zytostatikum Methotrexat und das Immunsuppressivum Azathioprin können laut Leitlinie für die Therapie erwogen werden, ebenso das Biologikum Dupilumab im Off-Label-Einsatz. „Für Dupilumab gibt es positive Ergebnisse aus zwei Studien und es könnte noch in diesem Jahr zugelassen werden“, sagt Ständer. Thalidomid und das verwandte Lenalidomid werden dagegen nicht empfohlen.
Topische Glukokortikosteroide sind laut Leitlinie bei chronischem Juckreiz ohne Hautveränderungen nicht zu empfehlen. Sie können jedoch beim Fehlen anderer Therapieoptionen versuchsweise eingesetzt werden. Eine Behandlung mit einem acht-prozentigem Capsaicin-Pflaster kann bei brachioradialem Pruritus (starkem Juckreiz im Unterarmmuskel) und Notalgia parästetica (sensorischer Neuropathie mit Juckreiz am Schulterblatt bzw. Rücken) erwogen werden.
Die Empfehlung für Antihistaminika wird in der Leitlinie im Vergleich zur Vorgängerversion abgeschwächt: Diese können bei chronischem Pruritus erwogen werden. „Antihistaminika werden von Behandlern oft empfohlen oder verschrieben, obwohl ihre Wirksamkeit begrenzt ist“, erklärt Ständer. Dagegen wird die topische Therapie mit Menthol und/oder Polidocanol sowie mit dem Lokalanästhetikum Lidocain bei chronischem Pruritus empfohlen – ein stärkerer Empfehlungsgrad als in der Vorgängerversion.
Auffallend ist, dass viele Empfehlungen auf wenigen oder eher kleinen Studien oder auf Expertenempfehlungen basieren. „Leider gibt es zu vielen Formen von chronischem Juckreiz bisher keine oder nur wenige größere, hochwertige Studien“, erläutert Ständer. „Das liegt auch daran, dass manche Formen von Juckreiz nur selten vorkommen. Daher gibt es hier kaum eine Entwicklung neuer Medikamente und auch die Finanzierung entsprechender wissenschaftsinitiierter Studien ist schwierig.“
Um die Symptome und ihren Verlauf zu dokumentieren, sollte den Betroffenen empfohlen werden, ein Symptomtagebuch zu führen. Diese gibt es inzwischen auch in App-Form. „Die gesammelten Informationen erleichtern es im Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt, die richtigen Therapieentscheidungen zu treffen. Zudem sind sie optimal für die Verlaufsbeurteilung“, sagt Prof. Dr. Silke Hoffmann. Sie ist Chefärztin des Zentrums für Dermatologie, Allergologie und Dermatochirurgie am Helios Universitätsklinikum Wuppertal und Beauftragte für die Öffentlichkeitsarbeit der DDG.
Zur Linderung des Juckreizes kann Patienten geraten werden, juckende Haut immer zuerst mit kühlenden und juckreizlindernden Cremes oder Lotionen einzucremen statt sich zu kratzen. Weiterhin sollten sie Kontakt mit irritierenden Substanzen und Allergenen meiden, ebenso wie Faktoren, die die Hauttrockenheit fördern. Auch das Vermeiden von Aufregung und Stress und psychologische bzw. psychosomatische Interventionen werden empfohlen, etwa der regelmäßige Einsatz von Entspannungstechniken wie autogenem Training oder progressiver Muskelrelaxation. Weitere konkrete Tipps für Betroffene finden sich auch auf der Webseite des Kompetenzzentrum chronischer Pruritus (KCP) am UKM.
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