Gerade auf dem Land können Hausbesuche sinnvoll sein, denn die Wege sind weit und die Patienten weniger mobil. Trotzdem bietet sie nicht jeder Arzt an – und das hat Gründe.
Einige Hausärzte lehnen Hausbesuche grundsätzlich ab. Auch, wenn das meines Wissens nach juristisch echt dünnes Eis ist. Gerade bei uns auf dem Land sind die Strecken weit und es geht für einen Besuch sehr viel Zeit drauf, weil auch unser „Einzugsgebiet“ entsprechend groß ist. Und: Die Vergütung, die man dafür erhält, ist nicht wirklich üppig.
Wenn ich für einen Hausbesuch inklusive Fahrzeit ca. 15 Minuten pro Wegstrecke unterwegs bin – was hier durchaus keine Seltenheit ist – und dann der Patient auch will, dass man sich „richtig Zeit für ihn nimmt“, weil man gerade da ist, sind 22,94 Euro für 45–60 Minuten Arbeit echt ein Witz. Bei einem „dringlichen“ Besuch (was oft sehr schwierig ist, weil in der Sprechstunde ja zehn andere Patienten versorgt werden sollen), bekommt man immerhin 67,57 Euro. Plus Wegegeld in Höhe von 3–10 Euro. Mal ernsthaft: Dafür bekomme ich keinen Elektriker, der nach meiner Waschmaschine schaut. Selbst wenn der aus meinem eigenen Dorf kommt und einen Anfahrtsweg von 5 Minuten hat.
Für mich persönlich ist die Versorgung zu Hause ein Teil der HAUS-ärztlichen Versorgung (deswegen heißen wir ja auch so …). Deswegen glaube ich, dass wir nicht nur juristisch dazu verpflichtet sind, sondern es in gewisser Weise ein integraler Bestandteil unseres Berufes ist. Und ja, das häusliche Umfeld bietet mir als Arzt auch viele Informationen: Sind die Medikamente alle in einer Schublade verkramt oder hat der Patient da noch die Übersicht? Sieht es überhaupt so aus, als schaffe der Patient seinen Haushalt noch? Sind viele Stolperfallen da, die Stürze begünstigen? All das kann ich in der Praxis nicht sehen.
Andererseits ist der erwähnte niedrige Stundenlohn für diese Erkenntnisse nicht wirklich wirtschaftlich. Es gibt wohl Regionen, wo aufgrund der kürzeren Distanzen Hausbesuche durchaus sehr lukrativ sind und waren, aber da gibt es dann juristische Fallstricke: Denn ein Anspruch auf einen Hausbesuch besteht nur, wenn der Patient nicht in der Lage ist, die Praxis aufzusuchen. Es gab bereits mehrfach Rechtsstreits, weil ein Arzt laut KV dann zu viele Hausbesuche (sog. „Gefälligkeitshausbesuche“) gemacht hat, was dann sogar zu Regressen führte. Also irgendwie sollen wir regelmäßige Hausbesuche machen, aber bitte nicht zu viele … oder so ...
Noch schwieriger finde ich persönlich akute Hausbesuche bei Beschwerden. Auch da gilt, dass der Patient nur dann aufgesucht werden soll, wenn er nicht mehr in die Praxis kommen kann. Und nein, simple Kopfschmerzen ohne Begleitsymptomatik zählen nicht in diese Kategorie, auch wenn mir vor kurzem eine Patientin im KV-Dienst erklärte, sie hätte mich damit ja auch jederzeit zu sich „ordern“ können.
Was sind das für Beschwerden, die einen akuten Hausbesuch nach sich ziehen? Da gibt es einerseits Palliativ-Patienten, bei denen völlig klar ist, dass sie nicht mehr ins Krankenhaus sollen/wollen und bei denen man natürlich versucht, möglichst viel zu Hause zu regeln. Aber bei denen auch klar ist, dass es nicht um die Maximierung der Lebenserwartung geht, sondern um eine Symptom-Linderung. Das ist verständlich und nicht das Problem und da ist für mich auch völlig klar, dass wir da viel möglich machen, wenn es geht.
Problematisch sind Patienten, die einerseits noch eine ausgiebige Versorgung und Diagnostik wollen, aber andererseits bitteschön zu Hause. Wie soll das denn gehen? Bei einem Hausbesuch habe ich meine Sinne und den Inhalt meines Arztkoffers (Stethoskop, Thermometer, Pulsoxy) an diagnostischen Möglichkeiten. In der Praxis habe ich zusätzlich Ultraschallgerät, EKG, diverse Schnelltests, etc. Und wenn es dem Patienten schon so schlecht geht, dass er nicht in die Praxis kommen kann, es sich aber NICHT um einen expliziten Palliativ-Patienten handelt, der sich der Möglichkeit, dass er bald stirbt, bewusst ist und bei dem die häusliche Versorgung die höhere Priorität hat – wie soll sich so einen schwerkranken Patienten bitte in den nächsten Tagen versorgen? Ich kann definitiv nicht jeden Tag zu einem Hausbesuch fahren, weil der Patient beispielsweise ein i.v. Antibiose braucht.
So etwas gehört für mich stationär.
Hinzu kommt, dass viele Symptome, für die die Patienten einen „dringenden Hausbesuch“ möchten, eigentlich gar nicht mehr hausärztlich zu betreuen sind: Akute Luftnot, Bewusstseinsstörungen oder ähnliches gehören zur 112, nicht zu uns Hausärzten. Denn wir können oft genug nicht sofort losfahren, brauchen länger – und rufen dann bei solchen potentiell lebensbedrohlichen Zuständen eh den Rettungsdienst dazu. Weil es a) zu Hause so nicht geht und b) bei vielen dieser Symptome ein enges Zeitfenster zur Therapie besteht (z.B. Herzinfarkt). Wenn ich da erst, nach den Regeln der Straßenverkehrsordnung, hinfahre – ich kann ja nicht so schnell wie ein RTW fahren – dann den Patienten ansehe und DANN den Rettungsdienst rufe, habe ich schnell mal 20-30 Minuten verschenkt. Das ist aber oft den Patienten bzw. den Angehörigen nicht so klar.
Nach meinem Gefühl geht es bei vielen Angehörigen auch darum, dass jemand da ist, der beim Entscheiden hilft. Klar ist da das telefonische Gespräch nicht die kommunikativ beste Methode, aber oftmals die schnellste und damit in einer akuten Gefahrensituation wie Herzinfarkt oder Schlaganfall die gesundheitlich beste.
Kommunikation ist da, wie so oft, meiner Erfahrung nach der Schlüssel. Am besten schon im Vorfeld, wenn man merkt, dass Patienten gerne Hausbesuche haben wollen, offen kommunizieren, was so ein Hausbesuch leisten kann – und was eben nicht. Im Zweifelsfalle mehrfach mit dem Patienten und immer auch gerne mit den Angehörigen zusammen besprechen, um „Stille-Post-Phänomene“ zu vermeiden. Es sollten alle Beteiligten – Arzt, Patient und Angehörige – auf demselben Stand sein und eben ggf. das Ziel anpassen, wenn z.B. dann doch die Palliativ-Situation eintritt.
Denn mit Hausbesuchen ist es wie mit vielem in der Medizin: Mit der richtigen Indikation eine tolle Sache, aber nichts, was man wahllos applizieren sollte.
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