„Wir müssen sicherstellen, dass wir nicht nur eine Funktionsstörung korrigieren oder ein Symptom heilen.“ Eine wirksame klinische Betreuung von Psychosepatienten setzt voraus, dass man die gelebte Erfahrung ihrer Wahnvorstellungen versteht.
Wenn Kliniker die Feinheiten der Gefühle, Einstellungen und Erfahrungen verstehen, die mit Wahnvorstellungen verbunden sind, können sie besser Vertrauen aufbauen und sich auf die Patienten einlassen. Um die Patienten besser nachvollziehen zu können, haben Wissenschaftler in einer aktuellen Studie, die in der Fachzeitschrift The Lancet Psychiatry veröffentlicht wurde, Erfahrungsberichte von Psychosepatienten in psychiatrischen Einrichtungen aus erster Hand zusammengetragen und ausgewertet.
Bei ihrer Überprüfung verwendete das Team einen neuen methodischen Ansatz, um alle verfügbaren qualitativen Erkenntnisse zu kombinieren und zusammenzufassen. Anschließend entwickelten die Forscher ein neues Modell, um besser zu verstehen, wie Wahnvorstellungen entstehen und durch verschiedene Kontexte auf mehreren Erklärungsebenen geprägt werden.
Die Autoren untersuchten die Erfahrungen von mehr als 370 Patienten, die in 24 verschiedenen wissenschaftlichen Studien beschrieben wurden und fanden eine Reihe von Themen, die allen Studien gemeinsam waren. Für die meisten Teilnehmer waren Wahnvorstellungen beispielsweise nicht nur ein Krankheitssymptom oder eine irrationale Überzeugung. Die Erfahrung konnte feindselig sein und Angst oder Panik auslösen, aber der Betroffene konnte auch Ehrfurcht oder Erstaunen oder eine tiefe Bedeutung in seinen Wahnvorstellungen erleben.
Wenn die Realität auf diese Weise verändert wird, kann der Betroffene um den Sinn seiner eigenen Identität ringen und Selbstzweifel oder Kontrollverlust erleben, oder umgekehrt das Gefühl haben, etwas Besonderes zu sein oder eine einzigartige Aufgabe zu haben. Im letzteren Fall scheint die wahnhafte Erfahrung in einer Zeit intensiven Lebensstresses ein Gefühl der Kohärenz, des Sinns und der Zugehörigkeit zu vermitteln und kann daher als vorübergehend adaptiv oder nützlich interpretiert werden.
„Diese Erfahrungen sind komplex und nuanciert“, sagt Hauptautorin Dr. Rosa Ritunnano, Fachärztin für Psychiatrie und Forscherin am Institut für psychische Gesundheit der Universität Birmingham und an der Universität Melbourne. „Wenn wir Kliniker für die Behandlung von Psychosen ausbilden, müssen wir sicherstellen, dass sie nicht nur eine Funktionsstörung korrigieren oder ein Symptom heilen. Wenn wir stattdessen versuchen zu verstehen, wie die Wahnvorstellung durch die Emotionen, die Lebenserfahrungen und den soziokulturellen Kontext des Patienten geformt wird, können wir eine Behandlung und Unterstützung entwickeln, die besser auf den Einzelnen zugeschnitten ist“.
Der Ansatz findet besondere Resonanz in Situationen, in denen ein Patient ohne seine Zustimmung inhaftiert wird, um ihn vor Schaden zu bewahren. Die Zahl der Patienten, die auf diese Weise inhaftiert werden, steigt seit einigen Jahren stetig an – wobei bestimmte ethnische Gruppen und Menschen mit Lernschwierigkeiten besonders betroffen sind.
„Eines der Hauptprobleme besteht darin, dass die Stimme des Patienten, bei dem Versuch ihm zu helfen, allzu oft verloren geht“, erklärt Dr. Clara Humpston, eine der Hauptautorinnen der Studie. „Pflegekräfte, Kliniker und Familienmitglieder müssen lernen, zuzuhören. Das bedeutet, dass sie akzeptieren müssen, dass es vielleicht keine gemeinsame Sichtweise der Realität gibt, dass aber die Erfahrung des Patienten immer noch wahr und gültig ist und nicht zum Schweigen gebracht werden sollte“.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der University of Birmingham. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Hybrid, unsplash