Steht die akute generalisierte Lähmung, die mit dem Guillain-Barré-Syndrom einhergeht, mit COVID-19 oder den Impfungen in Zusammenhang? Zwei Kasuistiken legen das nahe.
Nach dem fast völligen Verschwinden der Poliomyelitis ist das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) in unseren Breiten die häufigste Ursache für akute generalisierte Lähmungen. Mit einer Inzidenz von weltweit 1–2 Fällen pro 100.000 pro Jahr ist die Erkrankung sehr selten.
Das klinische Erscheinungsbild war bereits seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts bekannt. Der Name stammt von den französischen Neurologen G. Guillain und J. A. Barré, die im Jahre 1916 diese Erkrankung in ihren typischen klinischen und liquor-biochemischen Befunden beschrieben. Die Inzidenz steigt mit jedem 10-jährigen Altersanstieg um 20 %, Männer sind stärker gefährdet als Frauen.
Das GBS ist eine schnell fortschreitende periphere Neuropathie und die Hauptursache für schlaffe Lähmungen nach einer akuten Infektion. Zwei Drittel der Patienten haben Symptome einer vorangegangenen Infektion und die am häufigsten identifizierte Ursache ist Campylobacter jejuni. Diese Bakterien werden durch kontaminierte Lebensmittel, insbesondere nicht ausreichend erhitztes Geflügelfleisch und nicht pasteurisierte Kuhmilch, hervorgerufen. Auch das Zika-Virus kann dazu führen, dass viele Patienten neurologische Symptome wie GBS entwickeln.
Die genauen Pathomechanismen sind unklar. Vermutlich ist GBS u. a. nach einer C. jejuni-Infektion eine Autoantikörper-vermittelte Krankheit. Sehr wenige Patienten mit einer mikrobiellen Infektion entwickeln GBS, was auf eine Beteiligung von Wirtsfaktoren hindeutet, die diese Autoimmunität auslösen. Genetische Anfälligkeit könnte ein prädisponierender Faktor für GBS sein, obwohl die genetischen Faktoren, die die Wechselwirkungen zwischen Mikroben und Wirt beeinflussen, kaum untersucht sind. Das Wirtskomplementsystem spielt eine entscheidende Rolle im pathogenetischen Mechanismus von GBS.
In den vergangenen zehn Jahren stand Mannose-bindendes Lektin im Mittelpunkt des Interesses, da es die Fähigkeit besitzt, den Komplementweg durch enzymatische Regulation einzuschalten und somit die Anfälligkeit und Schwere von Krankheiten zu beeinflussen.
Das klinische Erscheinungsbild von GBS ist unterschiedlich, wobei die Schwäche normalerweise in den Beinen beginnt, bei etwa 10 % der Patienten wird hingegen eine frühere Beteiligung der Arme oder Gesichtsmuskeln berichtet. Bei 10–30 % der Patienten kann bei Atemmuskelschwäche eine Beatmungsunterstützung erforderlich sein. Weitere Merkmale sind eine Beteiligung des Gesichts- und Augennerven, Areflexie oder verminderte Reflexe mit Parästhesien und Schmerzen während der akuten Krankheitsphase.
Die autonome Dysfunktion bei GBS tritt überwiegend in der akuten Krankheitsphase auf, kann sich aber auch in der Genesungsphase manifestieren. Der genaue Mechanismus ist noch unbekannt, beinhaltet aber wahrscheinlich eine Dysfunktion des sympathischen und parasympathischen Systems. Eine solche autonome Dysfunktion wird in 70 % der Fälle beobachtet. Sie umfasst Merkmale wie Tachykardie, Bradykardie, Gesichtsrötung, Hypertonie im Wechsel mit Hypotonie, orthostatischer Hypotonie, Anhidrose oder Diaphorese und Harnverhalt. Die gastrointestinale autonome Manifestation umfasst Durchfall oder Verstopfung. Eine schwere autonome Dysfunktion ist ein wichtiger Faktor, der erkannt und entsprechend behandelt werden muss, da er mit einer plötzlichen Todesrate von 5–7 % verbunden ist.
Die Prognose wird durch die Form und den Schweregrad des GBS bestimmt und reicht von Patienten mit vollständiger Erholung über Patienten, die 6 Monate nach Krankheitsbeginn nicht mehr gehfähig sind, bis hin zu Verläufen mit letalem Ausgang.
Steckbrief
Name der Erkrankung
Guillain-Barré-Syndrom
Weitere Namen
Idiopathische Polyradikuloneuritis
Landry-Guillain-Barré-Strohl-Syndrom
Akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie
Chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie
Häufigkeit
1–2/100.000
Gestörte Funktion
Neurologische Autoimmunreaktion durch Erreger (C. jejuni, Zika, EBV, Herpes) oder Impfungen (u. a. COVID-19)
Therapie
Kortikoide
Immunglobuline
Plasmapharese
Standardtherapie sind die hochdosierte Gabe von i. v. Immunglobulinen (IVIG), eine Plasmapherese oder Immunadsorption. Allerdings ist die Therapie mit einer Standarddosis (2 g/kg) von intravenösen Immunglobulinen bei einem Teil der Patienten mit schwerem Guillain-Barré-Syndrom unzureichend wirksam.
Immunglobuline sind endogene Eiweiße, die mit einem Ende an Fremdkörper andocken können. Mit dem anderen Molekülende werden Elemente des angeborenen Immunsystems moduliert. Die zur Therapie verwendeten Immunglobuline werden aus dem Blutplasma von 5.000 bis 10.000 gesunder Spender gewonnen. Ein und dasselbe Präparat eignet sich daher zur Behandlung unterschiedlicher Autoimmunkrankheiten.
Eine randomisierte Studie mit 93 Probanden in den Niederlanden bei Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom und schlechter Prognose zeigte keinen therapeutischen Nutzen einer zweiten intravenösen Gabe hochdosierter Immunglobuline. Daher wird ein zweiter Behandlungszyklus mit Immunglobulinen nicht empfohlen.
Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie beinhaltet u. a. folgende Kernaussagen:
Die Erkenntnis, das es nach einer Impfung zu neurologischen oder immunologischen Nebenwirkungen kommen kann, ist nicht neu. Allerdings sind fast alle seltenen Erkrankungen genetisch bedingt. Das Auftreten von GBS nach einer COVID-19-Impfung ist somit in mehrerer Sicht ein Rarität.
Die Krankheit könnte aber auch durch SARS-CoV-2 selbst getriggert werden, wie eine internationale Kohortenstudie zeigt. Seit Beginn der Pandemie wurden über 90 GBS-Patienten mit einem möglichen Bezug zu COVID-19 gemeldet. Patienten mit einer bestätigten oder wahrscheinlichen SARS-CoV-2-Infektion hatten häufig eine sensomotorische Variante (8/11, 73 %) und eine Fazialisparese (7/11, 64 %). Die mediane Zeit vom Beginn der Infektion bis zu neurologischen Symptomen betrug 16 Tage. Patienten mit Corona-Infektion wiesen einheitliche neurologische Merkmale auf, ähnlich denen, die zuvor bei anderen postviralen GBS-Patienten beschrieben wurden.
Das Immunsystem bildet Antikörper gegen Bestandteile von Bakterien oder Viren, die auch die Myelinscheiden von peripheren Nervenfasern erkennen und angreifen. Die neurologischen Symptome sind dann Folge einer Demyelisierung der Axone, die allerdings reversibel ist. „Obwohl selten, legt dieser Fallbericht nahe, dass der Arzt nach der COVID-19-Impfung für GBS wachsam bleiben sollte“, so Anjum et al. in einer Kasuistik. In einer anderen Kasuistik von Lanman et. traten die Beschwerden nach einer einmaligen Impfung nach drei Tagen auf.
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