Schmerzen, Schwierigkeiten im sozialen Leben und Adipositas: Patienten mit Fragilem-X-Syndrom leben mit einigen Einschränkungen. Medikamente gibt es keine – noch. Peptide scheinen eine vielversprechende neue Option zu sein.
Das Fragile-X-Syndrom (FXS) ist eine Mutation im X-Chromosom. Neben kognitiven Störungen kommt es zu einer Reihe somatischer Beeinflussungen wie der Kopfform, des Fortpflanzungssystems, der Muskeln und Gelenke und einer erhöhten Krampfneigung. Eine spezifische medikamentöse Behandlung existiert nicht. Die Erprobung von in anderen Indikationen zugelassenen Medikamenten scheint jedoch hoffnungsvoll.
FXS wurde erstmals 1943 beschrieben und ist eine genetische X-gebundene Erkrankung, die aus einer Erweiterung einer Cytosin-Guanin-Guanin-Sequenz (CGG) in der Promotorregion des FMR1-Gens resultiert. Neben Betroffenen mit voll entwickeltem Syndrom gibt es deutlich mehr Träger des Krankheitsgens. Bei ihnen treten keine oder kaum Symptome der Erkrankung auf, sie können sie aber an ihre Kinder weitergeben.
FXS ist die am weitesten verbreitete Form von erblicher geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung (ASD) und betrifft weltweit etwa 1:4.000 Männer und 1:8.000 Frauen. Die höhere Rate bei Männern erklärt sich durch die X-chromosomale Natur der Erkrankung; außerdem zeigen etwa 10 % der Männer mit FXS einen Phänotyp, der ähnlich zum Prader-Willi-Syndrom ist. In Bezug auf Verhaltensaspekte der Störung zeigen Männer mit der vollständigen Mutation in etwa 90 % der Fälle Merkmale von ASD, wobei 60 % die diagnostischen Kriterien für ASD erfüllen.
Der Erbgang ist komplex. Männer tragen die Geschlechtschromosomen X und Y, Frauen hingegen X und X. Da Männer ihr eventuell betroffenes X-Chromosom nur an ihre Töchter weitergeben, können diese also die Krankheit erben. Söhne hingegen erhalten von ihren Vätern nur das Y-Chromosom; sie können das Syndrom also nicht von ihrem Vater erben. Frauen mit FXS hingegen tragen ein 50-prozentiges Risiko, das Erkrankungsgen sowohl auf ihre Söhne als auch auf ihre Töchter zu übertragen. Hat ein Mädchen ein unverändertes X-Chromosom und ein Chromosom mit der entsprechenden Mutation geerbt, so kann es ohne Beschwerden bleiben, wenn nur das gesunde X-Chromosom im Körper aktiv ist. Bei einem Sohn ist dies nicht möglich, weil er ja nur ein X-Chromosom hat.
Viele der Verhaltensmerkmale von ASD zeigen sich auch bei Patienten mit FXS, selbst wenn die Diagnose von ASD nicht vollständig erfüllt ist. Dazu gehören schlechter Augenkontakt, Schwierigkeiten in Beziehungen, die Ausführung sich wiederholender Aufgaben und Stress durch kleine Änderungen in den täglichen Aktivitäten. Patienten mit FXS können auch selbstverletzendes Verhalten als Folge dieser Wiederholung zeigen sowie Versuche, Stress durch äußere Reize abzubauen. Häufig wedeln Kinder z. B. mit den Händen oder beißen sich in den Handrücken, wenn sie besonderen Stresssituationen ausgesetzt sind. FXS-Betroffne sind leicht erregbar und neigen vor allem in jungen Jahren zu heftigen Wutausbrüchen.
Personen mit FXS weisen pragmatische Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation auf. Dazu gehören Probleme mit der Aufrechterhaltung eines Gesprächsthemas, der Ausdauer, sich wiederholender Sprache, Impulsivität und unangemessenen Antworten. Die Patienten weisen unterschiedliche körperliche Merkmale, wie ein langes Gesicht, hervorstehende Kiefer und verlängerte Ohren in Kombination mit Makroorchismen, auf.
All diese Verhaltens-, phänotypischen und klinischen Merkmale von FXS sind auf das Fehlen des Proteins FMRP zurückzuführen, einem gut charakterisierten RNA-bindenden Protein, das entscheidende Funktionen zeigt, die hauptsächlich mit dem Metabolismus von mRNAs zusammenhängen. Darüber hinaus leiden über 30 % der Patienten an Adipositas und gastrointestinalen Funktionsstörungen wie gastroösophagealem Reflux. Sowohl Männer als auch Frauen mit FXS leiden unter chronischen neuropathischen und muskuloskelettalen Schmerzen. Frauen mit FXS haben jedoch deutlich häufiger mit chronischen Schmerzen zu kämpfen.
Steckbrief
Name der Erkrankung
Fragiles-X-Syndrom
Weitere Namen
Häufigkeit
1:4.000 Männer und 1:8.000 Frauen
Gestörte Funktion
Ursache: genetisch bedingtes Fehlens des Proteins FMRP
kognitive Entwicklungsstörung, Sprach- und Sprechprobleme
Lernschwierigkeiten, Aufmerksamkeitsprobleme, Verhaltensprobleme, Aggression, mangelnde Impulskontrolle, Angst, Depression und Zwangsstörungen
Autismus-Spektrum-Störung
Früher Wachstumsschub
Langes, schmales Gesicht, abstehende Ohren, hoher Gaumen und Stirn
Skoliose
Hodenvergrößerung
Reflux
Seh- und Hörstörungen
Epilepsie
Herzklappendefekte
Therapie
Symptomorientiere Therapie
Ggf. Antiepileptika
Verhaltenstherapie, Logopädie
Pharmakotherapie in Erprobung
Epileptische Anfälle werden bei etwa 20 % der FXS-Patienten beobachtet. Der Beginn der Anfälle liegt typischerweise vor dem 10. Lebensjahr, wobei ein sehr geringer Anteil der männlichen Patienten einen Anfallsbeginn nach dem 15. Lebensjahr hat. Bei einem höheren Prozentsatz der Frauen treten Anfälle nach dem 15. Lebensjahr auf, was auf ein etwas anderes Muster für den Beginn der Anfälle bei Frauen hindeutet.
Obwohl die Anfälle normalerweise nicht spontan sind, weisen sie auf einen übererregbaren Gehirnkreislauf bei FXS hin. Sie bieten damit ein Mittel zur Bewertung des Ungleichgewichts der Erregbarkeit in Forschungsmodellen und zum Testen therapeutischer Interventionen bei FXS.
Die symptomorientierte medikamentöse Therapie besteht u. a. aus Stimulantien, selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren und atypischen antipsychotischen Agenzien. Diese sollte mit Sprachtherapie, sensorischer Integration, Beschäftigungstherapie und Verhaltensinterventionen kombiniert werden.
Der begrenzte Erfolg früherer klinischer Studien zum FXS hat Forscher dazu veranlasst, die Kombination verschiedener Medikamente in Betracht zu ziehen. Ziel ist, die pleiotropen Folgen zu korrigieren, die durch das Fehlen von FMRP verursacht werden. Zwei Medikamente, die auf den ersten Blick nichts mit dem FXS zu tun haben, wurden mehrfach untersucht. Das Statin Lovastatin und das Antibiotikum Minocyclin.
Bei FXS führt das Fehlen von FMRP zur Hyperphosphorylierung von extrazellulärer Signal-regulierter Kinase (ERK). Lovastatin hemmt den Mevalonatweg und senkt folglich die ERK-Phosphorylierung. Das Verhalten von Personen mit FXS im Alter von 10 bis 40 Jahren im Zusammenhang mit einer 3- bis 4-jährigen Therapie wird verbessert.
Eine doppelblinde, placebokontrollierte Studie belegte, dass Minocyclin, das über 3 Monate gegeben wurde, den CGI-I-Score (Clinical Global Impressions Scale-Improvement) bei Kindern mit FXS (im Alter von 3,5–16 Jahren) signifikant verbesserte.
In einer offenen klinischen Studie von Champigny et al. wurde die kombinierte Gabe von Lovastatin und Minocyclin bei Jugendlichen und Erwachsenen mit FXS untersucht. Ziel war, Sicherheit und Wirksamkeit einer Kombinationstherapie zu bewerten. Die Autoren vermuteten, dass die Kombination von Lovastatin und Minocyclin, die jeweils auf unterschiedliche Signalwege abzielen, synergistische Wirkungen auf die Kognition und das Verhalten bei Personen mit FXS haben könnte, ohne zusätzliche Nebenwirkungen zu haben. Aufgrund des intrinsischen Designs der Studie (offenes Label) sind Ergebnismessungen anfällig für den Placebo-Effekt und die Verzerrung der Beobachtererwartung. Dennoch wurde das Ergebnis als positiv bewertet. „Die Kombination von Lovastatin und Minocyclin ist bei Patienten FXS-Syndrom sicher und scheint mehrere Elemente des Verhaltens zu verbessern“, so die Autoren.
Alle bisher erwähnten Strategien zielen auf unterschiedliche Signalwege ab, deren unkontrollierte Aktivität bei der Pathologie von FXS, aber auch bei anderen neurologischen Erkrankungen und Krebsarten entscheidend zu sein scheint und zu pleiotropen Effekten führt. Dementsprechend könnten der Mangel an Spezifität und Selektivität die Hauptnachteile dieser Ansätze sein.
Die Verwendung von Peptiden oder Peptidomimetika könnte eine neue Option in der FXS-Pharmakotherapie sein. Die meisten anderen pharmakologischen Bemühungen zielen darauf ab, das Fehlen von FMRP-Protein zu kompensieren. Peptide sind aufgrund ihrer Eigenschaften – nämlich hohe Selektivität, Sicherheit und Verträglichkeit – eine vielversprechende pharmazeutische Option. Diese Art von Ansatz wurde jedoch noch nie bei FXS angewendet, um das Ungleichgewicht in der Proteinsynthese wiederherzustellen.
Ein Vorteil: Die Peptidtherapie wäre kein dauernder Eingriff, sondern diese Moleküle würden nur in einem begrenzten Zeitraum während der ersten Lebensjahre von FXS-Kindern verabreicht, wenn sich das Gehirn noch moduliert, um eine ordnungsgemäße Bildung des synaptischen Netzwerks zu ermöglichen. Daher wird daran gearbeitet, dass Peptide/Peptidomimetika den FMRP-Mangel kompensieren könnten, indem sie das Ungleichgewicht der Proteinsynthese und Aktindynamik wiederherstellen.
Bildquelle: Thomas Dumortier, unsplash.