Die Verschreibung von Kortikosteroiden erhöht für Patienten mit Sichelzellanämie das Risiko für eine vaso-okklusive Episode, wie eine aktuelle Studie demonstriert. Sie zeigt auch, welche Patientengruppen besonders gefährdet sind.
Die Sichelzellanämie (engl. sickle cell disease, kurz SCD) ist in den Vereinigten Staaten die häufigste vererbte Erkrankung der roten Blutkörperchen, von der schätzungsweise 100.000 Menschen betroffen sind. In Deutschland sind jährlich etwa 300 Kinder und Erwachsene betroffen. Schmerzereignisse, auch bekannt als vaso-okklusive Episoden (VOE) oder Sichelzellkrisen, sind die häufigsten Komplikationen von SCD und können zu starken Schmerzen und potenziell irreversiblen Organschäden führen.
Eine im Fachmagazin Blood veröffentlichte Studie untersuchte nun erstmals systematisch den Zusammenhang zwischen Kortikosteroidexposition und Krankenhausaufenthalten aufgrund von VOE. Sie zeigt: Die Wahrscheinlichkeit, wegen schwerer Schmerzen ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, ist für SCD-Patienten deutlich erhöht, wenn ihnen kürzlich ein Kortikosteroid verschrieben wurde
„Menschen, die mit SCD leben, leiden oft unter lähmenden Schmerzepisoden, die ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen können“, erklärt Studienautorin Dr. Ondine Walter vom Universitätsklinikum Toulouse in Frankreich. „Unsere Daten zeigen, dass Kortikosteroide häufig für Erkrankungen verschrieben werden, die nichts mit der zugrunde liegenden SCD zu tun haben. Gefäßverstopfende Ereignisse und damit verbundene Krankenhausaufenthalte scheinen der Verschreibung von Kortikosteroiden recht schnell zu folgen. Dies deutet darauf hin, dass Kortikosteroide möglicherweise zu den Ereignissen beitragen und bei diesen Patienten so weit wie möglich vermieden werden sollten.“
Bemerkenswert ist, dass der mittlere Zeitraum zwischen der Verschreibung eines Kortikosteroids und dem Krankenhausaufenthalt nur fünf Tage betrug. Auffallend war auch die Tatsache, dass fast die Hälfte (46 %) der Patienten mit SCD während des Studienzeitraums mindestens ein systemisches Kortikosteroid verschrieben bekommen hatte. Nach Ansicht von Dr. Walter unterstreichen die Ergebnisse die Notwendigkeit einer umfassenden Aufklärung von Ärzten und Patienten über die potenziellen Risiken des Einsatzes von Kortikosteroiden – insbesondere dann, wenn es keine eindeutige Indikation für den Einsatz dieser Mittel gibt.
„Kortikosteroide sind in den meisten Fällen leicht zu vermeiden und wenn sie doch notwendig sind, ist es wichtig, sie in Zusammenarbeit mit einem SCD-Experten zu verabreichen und alle angemessenen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um sie sicher zu verabreichen“, sagte Walter.
Für die Studie wurden die Daten von insgesamt 5.151 Patienten mit SCD aus der französischen Nationalen Krankenversicherungsdatenbank zwischen 2010 und 2018 verwendet. Die Patienten mussten mindestens einen Krankenhausaufenthalt wegen VOE haben, um in die Studie aufgenommen zu werden. Die Kortikosteroid-Exposition wurde anhand von ambulanten Verschreibungsunterlagen ermittelt.
Die Studie ergab, dass Patienten mit einer Kortikosteroid-Exposition – definiert im Monat vor dem Ereignis – signifikant häufiger wegen einer VOE ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Bei denjenigen, die auch Hydroxyharnstoff einnahmen, schien das Risiko einer Krankenhauseinweisung geringer zu sein als bei denjenigen, die das Medikament nicht einnahmen. Dies könnte auf eine mögliche schützende Wirkung von Hydroxyharnstoff auf das Auftreten von VOE hindeuten, erklärte Walter. Das Medikament wird häufig verschrieben, um die Zahl der durch SCD verursachten Schmerzereignisse sowie die Notwendigkeit von Bluttransfusionen zu verringern. Das Risiko einer Aufnahme war bei Männern im Vergleich zu Frauen und bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen ebenfalls geringer.
Auch wenn die genannten Faktoren das Risiko für eine Krankenhauseinweisung wegen VOE senken, betont Walter: „Dennoch müssen wir auf der Grundlage dieser Ergebnisse den Einsatz von Kortikosteroiden bei der Behandlung von Patienten mit SCD zweimal überdenken.“
Diese Studie ist insofern begrenzt, dass sie als Beobachtungsstudie nur einen Zusammenhang zwischen Kortikosteroiden und VOE-bedingten Krankenhausaufenthalten aufzeigen, aber keine Kausalität nachweisen kann. Da die Kortikosteroidexposition auf den Abgabedaten basierte, ist es auch nicht möglich zu bestätigen, dass die Patienten das Medikament auch eingenommen haben, sondern nur, dass das Rezept eingelöst wurde.
In künftigen Untersuchungen wollen die Forscher nun herausfinden, wie Kortikosteroide zu VOE führen können. Studien haben gezeigt, dass insbesondere das Absetzen von Kortikosteroiden mit Rebound-Schmerzen verbunden ist. Diese Studie fügt wichtige Daten über den Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Kortikosteroiden und nachfolgenden VOE zu einer wachsenden Zahl von Belegen hinzu, die nahelegen, dass Kortikosteroide nur bei Bedarf und unter Anleitung eines SCD-Experten eingesetzt werden sollten.
Dieser Artikel beruht auf einer Pressemitteilung der American Society of Hematology. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Muhammad Daudy, unsplash