Angesichts steigender Patientenzahlen bleibt Alkoholabusus das große Thema in Deutschland. Forscher nehmen bekannte Arzneistoffe wie Acamprosat und Naltrexon erneut unter ihre Lupe. Gleichzeitig warten sie mit Spannung auf methodisch hochwertige Studien zu Baclofen.
Deutschland hängt an der Flasche. Mittlerweile ist die Zahl alkoholabhängiger Menschen auf rund 1,8 Millionen angestiegen. Weitere 1,6 Millionen Erwachsene legen ein kritisches Konsumverhalten an den Tag – Tendenz steigend. Laut Studien des Münchener Instituts für Therapieforschung sind junge Erwachsene unter 25 besonders gefährdet. Forscher am Centre for Addiction and Mental Health (CAMH), Toronto, führen sogar jeden siebten Todesfall bei Männern und jeden 13. Todesfall bei Frauen auf Ethanol zurück. Jetzt sind Wissenschaft und Politik gefragt.
Zuletzt befassten sich Regierungsvertreter im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags mit entsprechenden Themen. Das Ausmaß schwerer Schädigungen von Kindern durch Alkohol während der Schwangerschaft überrascht wissenschaftlich gesehen niemanden mehr. Viele Frauen unterschätzen die tatsächlichen Gefahren aber nach wie vor. Experten berichteten dem Ausschuss, hierzulande kämen etwa 2.000 Kinder mit ausgeprägtem, fetalem Alkoholsyndrom (FAS) zur Welt. Bei 10.000 Neugeborenen gebe es einzelne Anzeichen. Konservativen Schätzungen zufolge liegt die Gesamtzahl bundesweit bei 200.000 Betroffenen. Sie leiden an zahlreichen körperlichen und geistigen Störungen. Ärzte erkennen lediglich jeden fünften Fall, was nicht nur an medizinischen Gründen liegt. Experten berichteten im Gesundheitsausschuss, das FAS-Syndrom beschränke sich keineswegs auf „einschlägige Milieus“. So sei das Trinkverhalten von Frauen mit hohem Sozialstatus, guten Jobs und breiter Bildung oft ebenso problematisch wie das von werdenden Müttern aus sozial niedrigen Schichten. Jetzt sind vor allem Initiativen gefragt, um Bürgerinnen und Bürger zu informieren. Diese Aufgabe könnten öffentliche Apotheken mit niedrigschwelligen Angeboten übernehmen.
Pharmakologisch kommen weitere Herausforderungen mit hinzu. Nur eine Minderheit aller Patienten erhält heute geeignete Arzneimittel wie den Glutamatmodulator Acamprosat oder den Opioidantagonisten Naltrexon. Dabei könnten Medikamente Erfolgschancen für Betroffene deutlich verbessern, berichtet Daniel E. Jonas von der University of North Carolina, Chapel Hill. Jonas hat zusammen mit Kollegen 122 randomisierte, klinische Studien und eine Kohortenstudie ausgewertet. Um einen Patienten aus der Sucht zu führen, mussten zwölf Personen mit Acamprosat behandelt werden. Bei oralem Naltrexon lag die Number needed to treat (NNT) bei 20. Direkt gegenübergestellt, war der Effekt beider Pharmaka ähnlich.
Warum zeigt Naltrexon trotz dieser vielversprechenden Daten in der Praxis manchmal nur schwache Effekte bei hohen Rückfallraten? Mit dieser Frage hat sich James C. Garbutt von der University of North Carolina at Chapel Hill befasst. Zusammen mit Kollegen suchte er nach möglichen Prädiktoren. Über Datenbankrecherchen identifizierte er 28 Veröffentlichungen und 20 Studien mit großer Heterogenität. Naltrexon wirkte unter anderem, falls eine positive Familienanamnese hinsichtlich der Alkoholabhängigkeit vorlag. Molekularbiologische Kriterien kommen mit hinzu. Patienten mit Asn40Asp-Polymorphismus am μ-Opioidrezeptor sprachen gut auf das Pharmakon an. Die Evidenz entsprechender Aussagen bleibt niedrig. Trotzdem wird klar, wohin die Reise geht: In Zukunft sollten Arzneimittelhersteller und Health Professionals versuchen, prädiktive Faktoren zu identifizieren, um den Nutzen einer Pharmakotherapie abzuschätzen. Dass bestimmte Subgruppen von Naltrexon profitieren, gilt als wahrscheinlich.
Mit Naltrexon ist das Spektrum pharmazeutischer Möglichkeiten lange noch nicht ausgeschöpft. Ärzte verschreiben auch den Opioidantagonisten Nalmefen. Anders als bei Naltrexon geht es nicht darum, Rückfälle zu vermeiden, sondern exorbitant hohe Trinkmengen zu verringern. In einer randomisierten Studie zeigte sich, dass Nalmefen den gewünschten Effekt zeigt. Jetzt hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) eine umstrittene Bewertung vorgenommen. Dem Wirkstoff wurde jedweder Zusatznutzen gegenüber Naltrexon als zweckmäßiger Vergleichstherapie abgesprochen. Das liegt an rein formalen Gründen, nachdem der Hersteller vor allem Informationen zum indirekten Vergleich zur Verfügung gestellt hat. Und so kritisierten IQWiG-Wissenschaftler Unterschiede hinsichtlich von Patienten beziehungsweise Behandlungszielen. Mit dem Ergebnis geben sich Experten nicht zufrieden. Für Patienten, die es nicht schaffen, abstinent zu werden, wäre der moderate Alkoholkonsum bereits ein Etappensieg.
Noch größere Hoffnungen setzen Patienten in Baclofen, nachdem der US-Kardiologe Olivier Ameisen entsprechende Selbstversuche veröffentlicht hat. Aufgrund zu niedriger Dosen lieferten erste Studien wenig brauchbare Ergebnisse. Mittlerweile setzen Ärzte und Apotheker auf höhere Arzneistoffgaben von 75 bis zu 300 Milligramm pro Tag – in vielen Fällen unter stationärer Kontrolle. Sie warten gespannt auf Resultate weiterer Studien wie ALPADIR, BACLOVILLE oder BACLAD.