Der Auftakt des Deutschen Ärztetags 2022 bietet einen Rundumschlag: Ein versuchter Schulterschluss, ein Buch so dick wie die Bibel und verhallende Appelle zu Reformen auf allen Ebenen.
In einer gediegenen Atmosphäre der Solidarität – für die Ukraine, für die, die Großes in der Pandemie geleistet haben und für all´ diejenigen Kollegen, die sich vermehrt mit aggressiven Auseinandersetzungen konfrontiert sehen – startete der 126. Deutsche Ärztetag. Das Angebot des Schulterschlusses nahm auch Gesundheitsminister Lauterbach an, der kurz vor seinem Auftritt noch öffentlich angefeindet wurde – und solche Situationen nur zur Genüge kennt.
Auch mit dem Schwenk auf die inhaltliche Ebene taten die offensichtlichen Differenzen in der Sache der Harmonie keinen Abbruch – wenngleich diese auch sehr konkret von BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt vorgetragen und klar adressiert wurden.
„Nenn´ das Wichtigste zum Schluss“ – so lautet die Grundregel der Rhetorik, an die sich Reinhardt auch in seiner Eröffnungsrede hält und seine Botschaft mit einem kiloschweren Gastgeschenk für den Minister untermauert: Die neue GOÄ in gedruckter Fassung.
In seinem letzten Appell betont der Ärztechef eindringlich wie wichtig und vor allem überfällig eine Anpassung der Gebührenordnung ist – für Patienten, die mehr Klarheit und Transparenz verdient haben, wie aber auch für die Ärzteschaft, die mit zeitgemäßen und fairen Vergütungssystem arbeiten sollte.
Ein klares Bild davon, wie absurd und aus der Zeit gefallen die derzeitige GOÄ praktiziert wird, gab Reinhardt on top:
„Nur ein Beispiel: Es ist absurd, dass eine optische Kohärenztomografie des Auges, mit der Veränderungen an der Netzhaut erkannt und kontrolliert werden können, in Ermangelung einer entsprechenden Gebührenziffer analog einer Ultraschalluntersuchung des Herzens berechnet werden muss.“
Dass man bereits Lauterbachs „Wir werden das vorurteilsfrei prüfen“-Dankeschön entnehmen kann, dass die Neuauflage nun wohl dennoch nicht kommen wird, dürfte auch dem letzten im Saal klar gewesen sein, bevor er in seiner eigenen Rede nicht auf das Thema zu sprechen kommt.
Ein weiteres reformatorisches Evergreen ist die Frage nach einer neuen Krankenhausinfrastruktur und allem was damit zusammenhängt – von der neu eingerichteten Kommission, der Frage nach dem DRG-System bis zu einer allgemeinen Digitalisierung.
Die Kritik am Expertengremium und den Vorwurf, dass die neu eingesetzte Krankenhauskommission (wir berichteten) nur aus Theoretikern bestünde, die keine praktische Erfahrung besäßen, konterte der Minister damit, dass „man die Praxis nicht gegen die Wissenschaft ausspielen [dürfe]“.
Auch in Sachen Vergütungssystem zeigte sich der Minister auf einer Linie mit den Fachkollegen. Dass das bisherige DRG-System für die Abbildung der Versorgung – vor allem in der Kinderheilkunde und in der Geburtshilfe – wenig geeignet sei, ist ihm bewusst und werde deshalb, wie im Koalitionsvertrag festgehalten, überarbeitet.
Applaus und Heiterkeit bot derweil Reinhardts Zielsetzung und Zusammenfassung in Sachen Digitalisierung. „Der Umgang mit neuen Anwendungen müsse störungsfrei im Alltag funktionieren. Nicht ausreichend getestete Anwendungen dürfen nicht auf den Markt, nur damit die Politik einen Haken hinter die Digitalisierung setzen kann“, so der Ärztechef. Ein Aspekt, den wohl nicht nur Krankenhausärzte aus ihrem täglichen Tun kennen.
Doch auch hier bot Lauterbach Unterstützung und Verständnis: „Die Digitalisierung muss kommen, sie macht die Medizin besser. Auch erlaubt sie eine andere Medizin. Allerdings muss der Nutzen der Anwendungen in der Tat von Patienten und Ärzten sofort spürbar sein.“
Weitere Einigkeit zwischen Politik und Ärzteschaft herrschte zuletzt vor allem in den Fragen nach neuen Anreizen und Konzepten für die Nachwuchsgewinnung – angefangen bei den Kleinsten in Form eines Schulfachs „Gesundheit“. Doch auch die (potenziellen) Studierenden müssen mit neuen Arbeits(zeit)modellen, mehr Freiheit im Beruf und gleichen Chancen geködert werden – ganz abgesehen davon, dass es vor allem vor dem Hintergrund des demografischen Wandels zunächst einmal viel mehr Studierender bedarf.
Einen noch umfassenderen Blick auf die Zukunft der Gesundheitsbranche sowie das Thema Prävention im Allgemeinen bot Reinhardt und betonte ein nötiges Umdenken für das gesamte Gebiet der Gesundheitskommunikation. Hier müsse es darum gehen, alle Lebens- und Wirkungsbereiche mit einzubeziehen – denn Prävention sei nicht nur eine Sache der Gesundheitspolitik, sondern vielmehr auch der Sozial-, Bildungs-, Verkehrs oder Arbeitspolitik.
Dass eine Eröffnungsrede nicht rein inhaltlich sein kann und auch keine handfesten Beschlüsse zu erwarten waren, ist klar. Und so ist auch Lauterbachs rhetorisches Schlusswort – „Sie sind für mich kein Kostenfaktor, sondern Kolleginnen und Kollegen“ – neben dem Zirkelschluss einer allumfassenden Branchensolidarität das Fähnlein im Winde, das zwischen Verständnisbitte um die Mühlen der politischen Bürokratie und dem Wissen darum, was zu tun ist, weht.
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