Es gibt dieses Wort, das Orthopäden und Ärzte gleichermaßen in Angst und Schrecken versetzt: Die Rede ist von E-Games. Aber wie böse sind sie wirklich – oder können sie sogar hilfreich sein?
Allein das Schlagwort „E-Games“ lässt Orthopäden und Allgemeinmedizinern einen Schauer über den Rücken laufen. Denn in vielen Köpfen weckt es Assoziationen mit Bewegungsmangel, Haltungsschäden, Nacken- und Schulterschmerzen. Zurecht? Jein! Eine aktuelle Studie der Sporthochschule Köln zeigt: Ja, es gibt sie, die charakteristischen Schmerzen und muskulären Probleme. Aber sie sind nicht häufiger oder stärker ausgeprägt als beim Rest der deutschen Bevölkerung.
Ob das nun eine Adelung der Gamerszene oder ein Armutszeugnis für den Rest der Republik ist, darf jeder für sich entscheiden. Fest steht aber: Die Studie zeigt auch, dass sich die Gamer über ihr, teils exzessives, Spielverhalten ebenso im Klaren sind wie über ihren Gesundheitszustand bzw. die körperlichen Auswirkungen der langen Sitz- und Bildschirmzeiten. Als Konsequenz daraus sind die meist jungen männlichen Vertreter dieser Gruppe überdurchschnittlich gut ergonomisch ausgerüstet.
Auch kompensieren sie die andauernde monotone Haltung durch einen zunehmend aktiven Lebensstil neben der Bildschirmzeit – gesunde Ernährung inklusive. In einer früheren Studie erfassten die Kölner Forscher einen Wert von 84 % unter den E-Sportlern, die auch klassischen Sport betreiben.
Werden die Gamer mit Rücken- und Nackenschmerzen vorstellig, hat es nicht ausschließlich spielbegründete Ursachen. Oder, wie es Prof. Ingo Froböse, Leiter des Instituts für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation der Deutschen Sporthochschule Köln, formuliert: „Prinzipiell treten Schmerzen nicht nur aufgrund eines bestimmten Verhaltens bzw. einer gewissen Tätigkeit auf. Der Schmerz ist eher multifaktoriell zu betrachten. So kommen dabei eher viele verschiedene Faktoren zusammen, wodurch der Schmerz letztendlich ausgelöst wird.“
„Ich behaupte, dass dem E-Gaming schlicht und einfach die physische Komponente fehlt und die Reduktion auf das Sitzen das Hauptproblem darstellt. Wer jedoch aktive Pausen einbaut und sogar im Stehen spielt, der kann durchaus gesundheitlichen Nutzen daraus ziehen,“, bestätigt Dr. Moritz Tellmann, Facharzt für Notfallmedizin, Gesundheitsförderung und Prävention, aus der eigenen Praxis.
Ebenso hartnäckig wie das Bild des dicken Computerspielers mit Rückenschmerzen hält sich die Vermutung, dass Computerspiele einen drogenähnlichen Charakter haben können. Die Aufklärung vorab: Es gibt sie, die Sucht nach Computerspielen und sie ist ebenso ernst und wichtig zu nehmen wie jede andere Abhängigkeit. Nicht zuletzt die Aufnahme der „Gaming Disorder“ in die Liste der Suchtstörungen durch die WHO 2019 zeigt, dass das Wissen um diese relativ neue Krankheit noch nicht weit verbreitet ist. Die Kriterien zur Suchteinstufung orientieren sich dabei jedoch an den bereits bekannten stoffungebundenen abhängigen Verhaltensformen wie bspw. der Glückspielsucht und lauten:
„Diese ist gekennzeichnet durch verminderte Kontrolle durch die Verhaltensausführung, überhöhte Bedeutung des Spielens, welches andere Interessenfelder und Alltagsaktivitäten verdrängt sowie einer fortgeführten Nutzung trotz damit zusammenhängender negativer Folgen. Das Verhalten soll für die Diagnose zu einer anhaltenden Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus beitragen und die Symptome über einen Zeitraum von 12 Monaten anhalten.“
Da die Abgrenzung zwischen risikoarmem, riskantem, missbräuchlichem und pathologischem Computerspielen bisher noch nicht klar definiert werden kann, bleiben Diagnostik und Behandlung in diesem Bereich weiterhin Gratwanderungen. Insbesondere in Sachen Suchtpotenzial, Dispositionen und Prädiktoren verschiedener Alterskohorten besteht daher noch Forschungsbedarf.
Einen ersten Ansatz zur Erfassung möglicher Prädiktoren bietet eine aktuelle Studie der Universität Oxford. Die Wissenschaftler analysierten das psychische und physische Wohlbefinden der Probanden mittels Daten aus der Spieleindustrie. Insbesondere der Parameter „Spielzeit“ wurde darin hinsichtlich einer gewissen Suchtwirkung untersucht.
Wichtigste Erkenntnis der Forscher: Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Spielzeit und Suchtgefahr besteht nicht. „Im Gegensatz zu vielen Befürchtungen, dass übermäßige Spielzeit zu Sucht und schlechter psychischer Gesundheit führt, haben wir einen kleinen positiven Zusammenhang zwischen dem Spielen und dem affektiven Wohlbefinden festgestellt“, erklären die Forscher um Niklas Johannes.
Die US-Forscher sehen also im Gegenteil eine andere Verbindung: „Der Zusammenhang zwischen Spielzeit und Wohlbefinden war in zwei großen Stichproben positiv.[…] Wenn überhaupt, deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass Spielen eine Aktivität sein kann, die sich positiv auf die psychische Gesundheit der Menschen auswirkt – und die Regulierung von Spielen könnte diese Vorteile den Spielern vorenthalten.“
Und dann gibt es da noch die andere Seite der Digitalangebote: ihre Anwendung als Therapieform. So rückt das Gaming auch abgesehen von klassischen Computerspielen zunehmend in den Fokus der Medizin. Zwar stecken Online-Spielprinzipien (auch aus den E-Sports) für mögliche Therapien noch in den Kinderschuhen, doch vielversprechende Konzepte, Pilotstudien und Anwendungsbeispiele gibt es bereits. Die so genannten Health Games bieten seit einiger Zeit vor allem in Sachen Kognition, Motorik und Cardio-Training einige vielversprechende Möglichkeiten.
Insbesondere die sogenannten Exergames – eine spezielle Form des digitalen Spiels – ist dabei hervorzuheben. Falls euch der Begriff noch nicht geläufig ist, keine Angst: Derzeit läuft beim DIN-Institut noch ein Standardisierungsverfahren, um ihn genau zu definieren. Bei dieser neuen Spielform handelt es sich um Bewegungsspiele, die, je nach Gestaltung, bei degenerativer Ataxie, in der Schmerz- und Krebstherapie oder auch bei Parkinson unterstützen könnten. Klingt weit hergeholt? Der medizinische Nutzen wurde, wie bei den folgenden Beispielen, aber in klinischen Studien bereits bewiesen.
Eines der prominentesten und erfolgreichsten Beispiele ist der 3D-Shooter „Re-Mission“. Es wird in der Therapie für krebskranke Kinder und Jugendliche eingesetzt. Die Patienten beziehungsweise Spieler müssen darin in jedem Level bestimmte Krebszellen oder Infektionen, wie das Non-Hodgkin-Lymphom oder Leukämie, bekämpfen. Untersuchungen zur Wirksamkeit des Spiels ergaben eine signifikant höhere Konzentration von Chemotherapeutika und Antibiotika im Blut der Teilnehmer.
Ein weiterer „Klassiker“ kommt aus der Schmerztherapie und heißt „Snow World“. Die Spieler müssen darin – unter Zuhilfenahme einer Virtual-Reality-Brille - Schneemänner mit Schneebällen abwerfen. Was banal klingt, lindert das subjektive Schmerzempfinden bei Verbrennungen um 30 bis 50 %.
Was die Anwendbarkeit der Spiele für die Behandlung von degenerativer Ataxie betrifft arbeiten in Deutschland die Mediziner um Prof. Matthis Synofzik und Dr. Winfried Ilg vom Hertie-Institut für Hirnforschung an Lösungen.
Wie sie die passenden Spiele auswählen, verraten die Forscher: „Ataxie-Patienten haben meist Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen. Daher haben wir zusammen mit Physiotherapeuten Übungen entwickelt, bei denen die Koordination und vor allem das Gleichgewicht geübt werden. Und dann haben wir geschaut, wie das mit Kindern und jungen Erwachsenen in Videospielen umgesetzt werden kann. Wie können wir das, was die Physiotherapeuten üben, in Exergames umsetzen? Oder gibt es Spiele, in denen diese Trainings-Anteile vielleicht schon umgesetzt werden?“
Klar ist letztlich zweierlei: Einerseits ist die Welt der digitalen Spiel- und Sportangebote schon jetzt groß und wächst weiter exponentiell. Der Behandlungsalltag von Ärzten wird sich dadurch verändern – in den Bereichen Diagnostik und Krankheitsbildern ebenso wie bei den therapieunterstützenden Maßnahmen. Denn, auch das muss auch gesagt werden: Aktuell sind Exergames und ihre digitalen Verwandten in erster Linie dazu da, klassische Therapien zu unterstützen. Noch.
Zum anderen bedarf es derzeit, wie auch in Zukunft, sowohl auf ärztlicher Seite eine Affinität für die Nutzung neuer Medien und Digitalangebote als auch auf Seiten der Patienten eine offene Haltung gegenüber neuen Formen der Therapie.
„Als Arzt sollte man sich dem E-Gaming aber nicht verschließen, da die Partizipation vieler Menschen und damit auch Patienten viel zu gegenwärtig ist und es eher sinnvoll erscheint, die Patienten zum ‚Healthy Gaming‘ zu motivieren“, appelliert Tellmann an seine Kollegen.
Bildquelle: Elijah Hail, unsplash