BEST OF 2022 | LONG-COVID-KLARTEXT | Das noch junge Krankheitsbild wirft bei Ärzten viele Fragen auf. Kann es eine Depression verursachen? Und was ist mit ME/CFS? Hier gibt’s die Antworten.
Die aktuelle digitale Sprechstunde von DocCheck Experts drehte sich um das Thema Long Covid. Unsere Sprechstunde mit Expertin Dr. Claudia Ellert fand auch diesmal als Live-Stream via Zoom statt. Moderiert wurde das Ganze von unserem Medical Content Manager Mats Klas, der eure Fragen an unsere Expertin gestellt hat. Sie ist leitende Oberärztin der Gefäßchirurgie an den Lahn-Dill-Klinken in Wetzlar und fokussiert sich auf die Langzeitfolgen von COVID-19. Den ersten Teil unserer Reihe könnt ihr hier nachlesen oder euch einfach als Video anschauen.
Die Begriffe werden häufig durcheinander genutzt und die Wenigsten wissen, was sie genau bedeuten. In aller Konsequenz gibt es gar keinen großen Unterschied. Long Covid ist im Mai 2020 als Begriff – als Hashtag auf Twitter – geboren worden: Eine Betroffene, die anhaltende Symptome nach einer COVID-19-Erkrankung beschrieben hat. Und dann haben viele unter diesem Begriff ihre Beschwerden dargestellt. Dieser Begriff Long Covid hat sich somit etabliert und anschließend Einzug in die medizinische Kommunikation gefunden.
Laut deutscher Leitlinie gibt es zwischen Long- und Post Covid einzig und allein einen zeitlichen Unterschied: Long Covid beschreibt anhaltende Symptome über 4 bis 12 Wochen nach Erkrankung; Post Covid erfasst Symptome, die mehr als 12 Wochen anhalten. Nach 12 Wochen werden die Begriffe im Prinzip nebeneinander benutzt, ohne dass es inhaltlich Unterschiede gibt. In der wissenschaftlichen Kommunikation bzw. in Studien setzt sich der Begriff des Post-Covid-Zustands zunehmend durch. Das heißt, für alle Beschwerden, die nach einer COVID-19-Erkrankung auftreten – vorher nicht bestanden – und mit ihr in Zusammenhang gebracht werden, sowie nach WHO-Definition mindestens 2 Monate bestehen.
Es ist ganz wichtig, zwei grundsätzlich verschiedene Gruppen unter Long Covid aufzumachen: die hospitalisierten Patienten und die Betroffenen mit einem milden oder asymptomatischen COVID-19-Verlauf. Die hospitalisierte Patientengruppe ist die mit einem schweren Akutverlauf – insbesondere vorerkrankte Männer betrifft dies häufig. Deren Verläufe nach der Krankenhausbehandlung sind letztendlich durch die Schwere der Akuterkrankung geprägt, durch Organschäden und dadurch, dass sie in der Rehabilitation lange brauchen, bis sie zu ihrer vorherigen Leistungsfähigkeit zurückfinden. Sie unterscheiden sich nicht wesentlich von Patienten, die wir sonst nach anderen, schwer akuten Krankheitsverläufen sehen.
Die Patientengruppe, die uns Probleme in der Behandlung und in der Einordnung macht, sind die, die milde oder asymptomatische Verläufe haben. Hier finden wir häufig nicht vorerkrankte Frauen zwischen 20 und 60 Jahren – sie machen ungefähr 2/3 der Patienten aus. Insgesamt sind etwa 10 bis 20 % der Long-Covid-Betroffenen vorher hospitalisierte COVID-19-Patienten gewesen. Der überwiegende Teil mit etwa 80 % sind junge, nicht-vorerkrankte Menschen. Sie werden völlig aus dem Leben gerissen – unter Einschränkungen ihrer beruflichen Fähigkeiten, Möglichkeiten sowie privaten Teilhabe.
Prinzipiell ist es so, dass COVID-19-Erkrankungen, die in medizinischen Berufen auftreten, als Berufserkrankung anerkannt werden. Dagegen wird die Anerkennung von Long Covid etwas stiefmütterlich behandelt: Da zieht man sich hinter Formulierungen zurück – das Krankheitsbild sei nicht anerkannt, man wisse nicht, wie lange es verlaufe und was man damit machen soll. Deshalb tun sich Berufsgenossenschaften in der Anerkennung der Long-Covid-Erkrankung sehr schwer.
Das führt dazu, dass Betroffene – insbesondere aus den ersten beiden Wellen – in Situationen kommen, in denen Krankengeldzahlungen oder Verletzengeldzahlungen auslaufen, sowie Rentenzahlungen, die sich normalerweise bei anderen anerkannten Krankheiten anschließen, nicht zum Zug kommen. Das ist ein Graufenster, das dazu führt, dass Leute nicht versorgt sind.
Es ist nicht ganz einfach, weil ein paar Effekte zusammenspielen: Auf der einen Seite haben wir Virusvarianten – wie Omikron –, auf der anderen Seite haben wir eine zunehmend geimpfte Bevölkerung. Das sind zwei Faktoren, die sicherlich einen Einfluss auf die Entwicklung von Long Covid haben. Die Hoffnung war groß, dass die Impfung das Long-Covid-Risiko relevant reduzieren würde und Omikron es seltener auslöst. Doch die aktuelle Studienlage ist dazu sehr divergent.
Großbritannien erhebt dazu Registerzahlen: Dort wird weiterhin über eine Häufigkeit von 8 bis 10 % unter den COVID-19-Fällen mit Omikron berichtet. Das heißt, eine richtige Entspannung scheint nicht da zu sein. Die Briten sagen, sie haben seit Omikron 600.000 neue Long-Covid-Fälle. Doch die Zahlen aus epidemiologischen Studien zur Prävalenz von Long Covid gehen weit auseinander – einige Studien berichten von 30 %. Wenn wir von den 10 % ausgehen, die die WHO angibt – bei Blick auf die gesamte Studienlage ist sie restriktiv –, dann scheint es, dass sowohl bei doppelt Geimpften, als auch bei Omikron-Infizierten, die Prävalenz bei 10 % liegt. Ich vermute, dass es nie richtige Zahlen geben wird, und dass die aktuelle Dunkelziffer – aufgrund fehlender Expertise zum Krankheitsbild, sowie Patienten, die bei milden Verläufen nicht den Arzt aufsuchen – nicht unwesentlich ist. Wir haben was COVID-19 betrifft keine realistischen Infektionszahlen.
Die größte Studie dazu ist eine Untersuchung mit doppelt Geimpften. Da war das Risiko bei den Geimpften 10 % und bei den Ungeimpften 14 %. Aktuell gibt die Studienlage nicht her, ob Auffrischimpfungen das Risiko auf Long Covid reduzieren würden. Wir sehen bei den Geimpften – mit und ohne Booster – Durchbruchsinfektionen. Das heißt, sobald eine Erkrankung vorliegt, besteht auch ein Long-Covid-Risiko.
Dennoch gibt es Vermutungen, dass Long Covid mit der Viruslast zusammenhängt. Geimpfte weisen häufiger geringere Viruslasten auf – könnte man auch in diese Richtung argumentieren?
Man könnte das ableiten. Bestimmte Untersuchungen zeigen, dass das Long-Covid-Risiko bei erhöhter Viruslast größer ist. Und man weiß, dass bei geimpften Personen die Viruslast niedriger ist. Dieses Argument spricht auch dafür, dass man weiter Masken trägt: Wenn es zu einer Infektion kommt, ist die Viruslast mit Masken natürlich niedriger als ohne. Rein statistisch sollte das Risiko somit auch sinken.
Die Autoimmunität schein zumindest eine Rolle in der Krankheitsentstehung zu spielen – als eine der möglichen Ursachen. Eventuell spielen auch unerkannte autoimmunologische Prozesse dabei eine Rolle.
Bei Kindern ist die Datenlage noch schwieriger zu interpretieren, weil es weniger Studien dazu gibt und die Diagnosestellung schwieriger ist. Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer höher. Doch als Aussage: Das Risiko für Kinder, Long Covid zu entwickeln, ist sicherlich niedriger als für Erwachsene. Das RKI weist Zahlen aus, die irgendwo zwischen 5 und 12 % liegen. Wahrscheinlich wird es irgendwo im niedrigen einstelligen Bereich liegen. Und inwieweit Omikron da eine Rolle spielt? Das wird bei Kindern nicht anders sein als bei Erwachsenen.
Das ist eine große Lücke: Normalerweise ist der Hausarzt der primäre Ansprechpartner für den Patienten, der anhaltende Beschwerden hat. Dann schaut man nach der Ausprägung des Beschwerdebilds. Dabei schauen Hausarzt und Patient zusammen, ob es beispielsweise kardiologische, pulmologische oder neurologische Probleme sind. Dann kommt die Frage auf: Braucht man eine fachärztliche Abklärung?
Long-Covid-Ambulanzen sind meist universitär angesiedelt und haben lange Wartelisten. Dort einen Termin zu bekommen ist schwierig. Letztendlich können die Untersuchungen, die dort gemacht werden, ebenfalls im niedergelassenen Bereich bei entsprechenden Fachärzten stattfinden. Dabei geht es unter anderem um den Ausschluss von Organveränderungen – d.h. Mitbeteiligung von Herz, Lunge, Gehirn oder Nerven. Das ist häufig auch im ambulanten, niedergelassenen Bereich abbildbar. Formal ist somit der Hausarzt der Ansprechpartner. Seit letztem Jahr gibt es auch eine S1-Leitlinie, die als Richtlinie für Behandlungsabläufe dienen kann.
Kommt ein Patient in die Praxis und die Routinediagnostik ergibt nichts – er sieht auch gesund aus – doch sagt: ‚Ich komme nicht über einen Arbeitstag, kriege Kopfschmerzen und kann mich nicht konzentrieren‘ oder ‚Ich kriege Muskelschmerzen und entwickle Symptome wie Tinnitus und Erschöpfung; ich bin einfach nicht leistungsfähig.‘ Es gibt ein Symptom, das ist die Belastungsintoleranz oder Unverträglichkeit gegenüber körperlicher oder geistiger Belastung, die diese Symptome auslöst, die Stunden bis Wochen anhalten – nicht nur im Moment der Belastung, sondern auch verzögert. Das kann man einfach anamnestisch erfassen, denn das gibt es bei keinem anderen Krankheitsbild. Das ist ein entscheidendes Kardinalsymptom für die postvirale Fatigue sowie der ME/CFS.
Das muss unbedingt geklärt werden – weil wenn ein Patient eine Belastungsintoleranz hat, brauch ich keine aktivierende Therapie mehr vorschlagen. Das wäre sonst absolut kontraindiziert.
Das wäre das eine, was zu klären ist; das andere Phänomen ist die autonome Dysregulation. Die liegt bei einer Vielzahl von Patienten vor – in Studien sind es um die 80 %. Die kann man mithilfe des Schellong-Tests diagnostizieren. Der zeigt die pathologische Regulation auf eine orthostatische Belastung. Die Patienten haben klassischerweise einen Herzfrequenzanstieg, der bestehen bleibt – das können 20, 30 oder mehr Schläge pro Minute sein, ohne dass der Blutdruck großartig absinkt. Das ist auch ein Anzeichen dafür, dass das vegetative Nervensystem nicht ausgeglichen agiert, sondern man ein Überagieren vom Sympathikus hat. Das Problem hierbei ist die Dysregulation bzw. die Fehlsteuerung zwischen Sympathikus und Parasympathikus, die in einer fehlenden Regulation auf Gefäßebene resultiert. Das heißt, die Gegenregulation setzt nicht ein, die Gefäße reagieren nicht auf das, was sie eigentlich tun müssten, das Blut versackt in der unteren Körperhälfte und kommt im Prinzip im Kopf nicht an und viele Patienten leiden dann unter Schwindel bei Orthostase. Manche können nur liegen und sich gar nicht aufsetzen.
Das kommt meines Erachtens darauf an, wie man Reha definiert. So wie Reha aktuell bei uns definiert ist und mit den Konzepten, die einer Rehabilitationsmaßnahme zugrunde liegen, ist es extrem schwierig, weil alle Rehabilitationskonzepte auf Training basieren. In allen Standardkonzepten – pulmologisch, kardiologisch, psychosomatisch – ist Bewegung immer Hauptbestandteil. Weil sie eigentlich positive Effekte hat, die aber hier leider kontraindiziert sind. Das heißt, eine Reha darf natürlich auf Bewegung basieren, doch sie kann nur funktionieren, wenn sie keine körperliche Aktivierung zum Ziel hat, die die Leistungsfähigkeit steigern soll. Sonst wird es dem Patienten schlechter gehen.
Was man sicherlich vermitteln kann, sind Strategien zum Umgang mit der Erkrankung – das sogenannte Pacing. Also wie viel Energie habe ich selbst zur Verfügung und wie teile ich sie mir ein, dass ich im Leben und Alltag klarkomme? Man kann sicherlich psychotherapeutisch begleitend behandeln; aber alles, was wir aus Ergometertrainings und Krafttrainings kennen, müssen wir weglassen. Hauptbestandteile müssen Entspannungstherapien sein. Mit Blick auf das vegetative Nervensystem, brauchen wir Sachen, die den Parasympathikus stärken und auf den Vagus abzielen – d.h. Entspannungssachen aus dem autogenen Training oder Yoga.
Zum Ablauf der Fragestellungen: Hat ein Patient eine Belastungsintoleranz oder hat er sie nicht? Welche Therapien kann ich ihm zuführen? Was kann ich ihm zumuten, ohne dass es zu einer Verschlechterung führt? Allerdings ist letzteres ein großes Problem, was noch häufig passiert.
So muss es sein, da das Symptombild so verschieden ist. Manche Patienten sind von neurologischen Symptomen geprägt, andere wiederum von neurokognitiven Einschränkungen. Kognitive Trainings zeigen ganz gute Effekte. Es gibt ein paar Puzzlesteinchen, an denen man arbeiten kann. Dennoch muss man zentral entscheiden: Aktivierung – ja oder nein? Und das entscheidet sich mit dem Vorliegen der Belastungsintoleranz.
Eine Depression ist eine eigenständige Diagnose. Was man häufiger im Rahmen von Long Covid sieht, sind sogenannte Anpassungsstörungen – d.h. Störungen auf psychischer Ebene. Das sind Reaktionen auf das Erkrankungsbild. Da das Erkrankungsbild anhält, bleibt die psychische Belastung natürlich bestehen. Natürlich sind Patienten, die vorher von psychischen Symptomen geplagt waren, sicherlich eher gefährdet, durch so eine schwere, anhaltende Erkrankung auch depressive Krankheitsbilder zu entwickeln. Doch die Studienlage zeigt: In der Regel sind Patienten zunächst verunsichert, sie entwickeln Ängste und die treten zusammen mit einer Anpassungsstörung auf. Long Covid ist per se ein somatisches Krankheitsbild, das aufgrund seiner Chronifizierung zu einer psychischen Belastung führt. Und in Einzelfällen werden da sicherlich auch depressive Krankheitsbilder diagnostiziert werden können.
Wenn man versucht, einen depressiven Patienten von einem Long-Covid-Patienten abzugrenzen, sieht man: Derjenige mit der Belastungstoleranz versucht immer wieder loszulegen. Ein depressiver Patient bringt diese spontane, intrinsische Aktivität gar nicht mit, sondern hat ein Problem damit loszulegen. Und das kann man im Gespräch ganz gut rauskriegen. Ein depressiver Patient wird mit einer Aktivität keine Symptome auslösen – Kopfschmerzen, kognitive Einschränkungen, Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen, Tinnitus sind Symptome einer Erkrankung, die aufgrund der Belastung entstehen. Das schafft kein anderes Krankheitsbild.
Das Problem: Sie sind anhaltend in ihrer Verformbarkeit gestört. Erythrozyten sind normalerweise bikonkav und haben keinen Zellkern – dadurch können sie sich einfach verformen, wenn sei beispielsweise in Kapillaren eindringen. Bei Long-Covid-Patienten scheinen sie diese Fähigkeit verloren zu haben. Dann sind sie rund und kommen in die Kapillargefäße bzw. in die Mikrozirkulation nicht rein. Selbst mit dem Regenerationszyklus der Blutzellen bleibt dieses Problem bestehen. Man kann dieses Problem auch noch nach 12 bis 15 Monaten nachweisen.
Long Covid ist als Begriff ein riesiges Fass, in das alles reinfällt. Daher geht man auch langsam in die Richtung, Subgruppen zu definieren. Eine dieser Subgruppen sind Patienten, die insbesondere durch pulmologische Probleme geprägt sind – anhaltend über Monate. Häufig ist bildgebend bzw. in der Routinediagnostik nichts nachweisbar – auch keine Depressionsstörung –, doch nichtsdestotrotz haben Betroffene Probleme.
Es spielen verschiedene Sachen mit rein: Erstens die Vaskulitis, die überall im Körper vorhanden ist. Das heißt, gewisse Lungenbereiche werden nicht perfundiert oder sind von der Perfusion ausgeschaltet und es kommt zu einem Shunt unter Umgehung von Lungenbezirken. Letztendlich müsste man den Patienten dann eine intensive Atemtherapie oder Atemgymnastik verordnen, um die Abläufe in der Atemmechanik zu optimieren und effizienter zu gestalten bzw. Energie zu sparen. Denn für Long-Covid-Patienten ist intensives Atmen unheimlich anstrengend, da sie permanent unter gefühltem Sauerstoffmangel leiden.
Es gibt anekdotische Berichte von Patienten oder ein paar Untersuchungen dazu, dass die Long-Covid-Symptomatik nach der Impfung weggefallen ist – man glaubt, dass es mit einer Viruspersistenz zusammenhängt, die durch eine Impfung beseitigt werden könnte. Das wäre das sogenannte therapeutische Impfen. Ich bin da vorsichtig: Die Studien dazu geben kein einheitliches Bild und vor allem nicht, dass eine Mehrzahl der Patienten davon profitiert. Es geht eher in die Richtung, dass bei 50 % nichts passiert, bei 20 % wird es schlechter und bei 30 % besser. Es gibt auch Long-Covid-Betroffene, die nach einer Impfung über eine deutliche Verschlechterung ihrer Symptomatik berichten – Einschränkungen sowohl in der Mobilität, als auch in der Leistungsfähigkeit.
Es gibt einige Studien zu Nahrungsergänzungsmitteln (NEM), die propagieren, dass diese unterstützend im Rahmen von ME/CFS gegeben werden können. Aber das ist unterstützend und nichts, was ein Erkrankungsbild wie ME/CFS oder Long Covid behandelt.