Überstrahlt von der gesellschaftlichen Präsenz der Nikotin- und Alkoholsucht führt die Schlafmittelsucht hierzulande seit Jahrzehnten ein Schattendasein. Die unsachgemäße Anwendung von Benzodiazepinen gedeiht oft auf lückenhaftem Wissen vieler Ärzte und Patienten.
Gemäß einer Übersichtsarbeit von Janhsen et al. beläuft sich die Zahl der Benzodiazepin-Abhängigen in Deutschland auf bis zu 1,6 Millionen und rangiert damit laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) noch vor der Alkoholabhängigkeit. „Da Benzodiazepine ebenso wie Alkohol ihre Hauptwirkung über den GABA-Rezeptor entfalten, könnte von den Kollegen genauso gut Alkohol als Therapeutikum für die psychische Erkrankung empfohlen werden! Der einzige Unterschied liegt darin, dass Benzodiazepine wesentlich schneller eine Abhängigkeit hervorrufen als Alkohol“, kritisiert Dr. Rüdiger Holzbach, Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin in Warstein und Lippstadt. Insgesamt lag das jährliche Verschreibungsvolumen von Schlafmitteln an GKV-Versicherte im Jahr 2013 in schwindelerregenden Höhen von 230,1 Millionen Tagesdosen und damit noch deutlich vor der Gesamtsumme der Onkologika. Darunter entfiel knapp die Hälfte auf Benzodiazepine und ein Drittel auf die sogenannten Z-Drugs wie Zolpidem und Zopiclon, deren Abhängigkeitspotenzial weiterhin unterschätzt wird. Bei einer Befragung deutscher Hausärzte hielten 80,4 % der Befragten Z-Drugs für effektiver und nebenwirkungsärmer, obwohl die WHO bereits vor rund zehn Jahren keine wesentlichen Unterschiede im Suchtpotenzial beobachten konnte. Auch neuere Studien attestieren den Analoga ein ähnlich hohes Abhängigkeitsrisiko wie den Benzodiazepinen selbst.
Rasch nach ihrer erfolgreichen Synthetisierung in den 1960er Jahren erlangten die Benzodiazepine aufgrund der ausgeprägten Wirksamkeit und Verträglichkeit einen außerordentlichen gesellschaftlichen Stellenwert als Beruhigungs- und Schlafmittel. Der Missbrauch und das enorme Abhängigkeitspotenzial blieben jedoch schon damals nicht verborgen und wurden popkulturell aufgegriffen. Heutzutage zählen Benzodiazepine und ihre Analoga weltweit zu den am häufigsten verordneten Arzneimitteln. Mit rund 42 % nennt der Großteil der Konsumenten weiterhin Schlafstörungen als primären Einnahmegrund. Dahinter folgen mit 12,5 % Angstzustände und Panikattacken, dicht gefolgt von Überforderung und Erschöpfung bei 10,3 %. Nach Angaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erhalten etwa 4-5 % der Versicherten jährlich mindestens eine Verordnung eines Benzodiazepins oder eines Benzodiazepin-Analogons. Bei 17,5 % der Anwender ergäben sich deutliche Hinweise auf eine problematische Einnahme, bei älteren Anwendern zeige sogar mehr als jeder Fünfte Zeichen einer Abhängigkeit. „Viele ältere Patienten müssen 18 Stunden am Tag irgendwie füllen, manche flüchten mit Tabletten schlicht und einfach in den Schlaf“, glaubt Holzbach.
Bei einem beträchtlichen Anteil verschriebener Schlaf- und Beruhigungsmittel handelt es sich um sogenannte Wunschverordnungen – die Patienten fürchten eine Rückkehr der initialen Symptome. Jeder achte Arzt gibt an, in diesem Zusammenhang den Forderungen des Patienten nachzukommen. Das hat dazu geführt, dass die Patienten die Substanzen im Mittel bereits seit etwa zehn Jahren einnehmen, 16 % der Patienten sogar zwanzig Jahre und länger. „Der Patient hat nicht das Gefühl, etwas falsch zu machen, schließlich bekommt er die Pillen ärztlich verordnet“, erklärt Holzbach. „Sein Arzt wiederum hat ein Erfolgserlebnis, weil es seinem Patienten offenbar besser geht durch die Behandlung.“ Gemäß den aktuellen Arzneimittelrichtlinien ist die erstattungsfähige Verordnung von Sedativa und Hypnotika jedoch lediglich für einen Zeitraum von bis zu vier Wochen gestattet, vorbehaltlich begründeter Einzelfälle. Da Verordnungen auf Privatrezepten den Datenbanken und Kontrollen der GKV entgehen, füllen die Ärzte unabhängig vom Versichertenstatus für rund die Hälfte solcher Verschreibungen in Deutschland ein Privatrezept aus. „Laut Arzneimittelrichtlinie sollte die Ärztin, der Arzt genau überprüfen, ob die mehrfache Verordnung eines Benzodiazepins sinnvoll ist. Wer nicht auffällig werden will, nimmt dann eben ein Privatrezept“, erläutert Prof. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Infolge dieser Verfahrensweise scheinen beträchtliche Dunkelziffern hinsichtlich der Anwendung und der Abhängigkeit im Verborgenen zu lauern: „Wir haben festgestellt, dass zwar laut Kassen nur noch halb so viele Schlaf- und Beruhigungsmittel wie vor zehn Jahren verschrieben werden. Die Verkäufe in den Apotheken sind jedoch unverändert hoch“, entlarvt Holzbach die Taktik der Privatrezeptierer. „Das Verordnungsgeschehen ist über die Daten zum Beispiel des jährlichen Arzneimittelreports nicht mehr transparent zu machen“, beklagt Glaeske. Die DHS geht daher davon aus, dass in Wahrheit 10-17 % der Bevölkerung im Verlauf eines Jahres ein Benzodiazepin-Präparat zu sich nehmen.
Angesichts des gesundheitlichen Gefährdungspotenzials wurden in der Vergangenheit zahlreiche Hürden installiert, um den Zugang zu diesen Substanzen zu erschweren. Bereits in den 1980er Jahren einigten sich Pharmaunternehmen und Zulassungsbehörden darauf, die Anwendungsdauer auf zwei bis vier Wochen zu beschränken. Überdies obliegt die Abgabe der meisten Benzodiazepine und Analoga mittlerweile den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes. Neuere Initiativen konzentrieren sich auf die Schulung und Aufklärung von Ärzten im Umgang mit den suchterzeugenden Mitteln. Zu diesem Zweck haben die Bundesärztekammer (BÄK) und die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg eine Handlungsempfehlung zur Verordnung von Benzodiazepinen und deren Analoga veröffentlicht. Ferner hat die BÄK gemeinsam mit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) bereits vor einigen Jahren einen ausführlichen Leitfaden zum Thema Medikamentenabhängigkeit herausgegeben. Darin weisen die Autoren ausdrücklich auf den Stellenwert der Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten hin.
Von außerordentlicher Notwendigkeit ist jedoch auch die Aufklärung der Patienten hinsichtlich der Risiken und des Suchtpotenzials: „Vielen Menschen ist das Suchtpotenzial der zur Wirkstoffgruppe der sogenannten Benzodiazepine gehörenden Präparate nicht bewusst“, betont Andrea Jakob-Pannier, Suchtpräventionsexpertin bei der Barmer-GEK. In Kooperation mit der BÄK haben die Barmer-GEK und die DHS deshalb kürzlich eine Kampagne gestartet, die sowohl Ärzte als auch Apotheker und Patienten über die Gefahren und den richtigen Umgang mit Benzodiazepinen informiert: „Wenn Ärzte ein Benzodiazepin oder ein Benzodiazepin-Analogon verschreiben, ist es wichtig, dass sie nach der 4K-Regel verfahren – und deren Sinn auch dem Patienten vermitteln: Konkrete Diagnose, kurzfristige Einnahme, kleinste Packungsgröße, kein abruptes Absetzen“, rät Holzbach.