Mediziner in Hannover hatten mit einem völlig neuen Therapieansatz offenbar durchschlagenden Erfolg. Der Patient: Ein dreijähriges Kind mit schwerem Lungenhochdruck. Die Therapie: Ein Stammzellpräparat aus der Nabelschnur des Geschwisterchens.
„Es ist bisher nur eine Patientin.“ Prof. Georg Hansmann, leitender Oberarzt an der Klinik für Pädiatrische Kardiologie und Pädiatrische Intensivmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), ist lange genug forschender Arzt, um zu wissen, dass ein einzelner Fallbericht – das berühmte „n = 1“ – nicht überbewertet werden darf. „N = 1“-Studien werden aber gerade für unheilbare, chronisch fortschreitende, insbesondere auch seltene Erkrankungen, bei denen es hohen Bedarf an neuen Therapien gibt, als legitim und wichtig angesehen. Denn erfolgreiche Kasuistiken sind nicht selten Ausgangspunkt für die Entwicklung völlig neuer Therapieansätze. Vielleicht auch hier.
Aber der Reihe nach: In der Fachzeitschrift Nature Cardiovascular Research berichten Hansmann und Kollegen in dieser Woche von einem Mädchen mit einer schweren Form des Lungenhochdrucks (PAH). Die Erkrankung wurde im Alter von drei Jahren diagnostiziert. Aufgefallen war das Kind unter anderem durch zwei Krampfanfälle mit Bewusstseinsverlust, die zunächst als Fieberkrämpfe missinterpretiert wurden. Die Belastbarkeit war stark eingeschränkt: „Im 6-Minuten-Gehtest erreichte das Mädchen zum Beispiel nur 270 Meter. Bei Kindern sollte die Gehstrecke deutlich über 400 Meter liegen“, so Hansmann. Was ebenfalls auffiel, war häufiges Nasenbluten. Das Kind hatte Teleangiektasien an Schleimhaut und Haut; auch Wachstum und Gewichtszunahme waren nicht altersentsprechend.
Es gab also eine Menge Gründe, sich das Mädchen etwas genauer anzusehen. Das wurde dann auch gemacht, zunächst an einer externen Klinik und dann an der MHH. Was die Echokardiographie zeigte, will bei einem Kind dieses Alters niemand sehen: Eine schwer eingeschränkte Funktion des rechten Ventrikels und eine Trikuspidalinsuffizienz Grad 2. Im Herzkatheter sahen die Ärzte dann – fast schon erwartungsgemäß – eine schwere PAH mit einem Blutdruck in den Pulmonalarterien von 119/57 mmHg (Mitteldruck 85 mmHg). Das war deutlich höher als der systemische Blutdruck in der Aorta ascendens: der betrug nur 94/43 mmHg (Mitteldruck 63 mmHg).
Weitere Diagnostik folgte und am Ende stand fest, dass es sich um eine genetische Form der PAH handelte, konkret eine hereditäre PAH mit Mutation im ACVRL1-Gen. „Diese Mutationen können spontan auftreten oder vererbt werden, wobei die ACVRL1-Mutation unter allen bekannten Genveränderungen die schlechteste Prognose hinsichtlich Überleben hat. Weltweit waren bis zu diesem Zeitpunkt nur sieben PAH-Patienten mit exakt dieser Mutation bekannt“, so Hansmann. Bei dem jungen Mädchen geht die Mutation auch noch mit erblichen, hämorrhagischen Teleangiektasien (Morbus Osler-Weber-Rendu) einher – der Grund für das häufige Nasenbluten. Auch das ist in der Literatur bei diesem Gendefekt schon vereinzelt beschrieben worden.
Für Kinder mit PAH gab es lange Zeit kaum therapeutische Möglichkeiten. Das hat sich in den letzten Jahren etwas geändert, aber die Optionen sind immer noch sehr begrenzt. „An Medikamenten stehen im Wesentlichen PDE5-Hemmer, Endothelin-Blocker, Aldosteron-Antagonisten sowie inhalative oder intravenöse Prostaglandine zur Verfügung“, so Hansmann im Gespräch mit DocCheck News. Das wurde den Eltern des Kindes dann auch Off-Label angeboten. Die Initialtherapie bestand zunächst aus einer Kombination aus oralem Sildenafil und Bosentan. Darauf sprach das Kind allerdings kaum an.
An dieser Stelle kam die MHH ins Spiel, deren Experten gebeten wurden, zu beurteilen, ob das Kind für eine Lungentransplantation in Frage kommen könnte. „Die Lungentransplantation kann für diese Kinder unter Umständen die einzige Option sein. Wir können sie in Hannover auch meist erfolgreich durchführen, aber sie ist langfristig nicht ideal“, betont Hansmann. „Die Organfunktion bleibt nach Lungentransplantation nicht jahrzehntelang erhalten, wie das bei Herztransplantationen oft der Fall ist. Auch ist die Immunsuppression gerade für Kinder nicht leicht durchzuhalten.“ Die MHH-Experten beschlossen deswegen, nicht zu transplantieren und den medikamentösen Weg weiter zu beschreiten. Bosentan wurde durch Off-Label Macitentan ersetzt, Spironolacton und inhalatives Iloprost kamen dazu. Die nächste Eskalationsstufe, intravenöses Prostaglandin, schied aus, weil der Blutdruck der Kleinen ohnehin schon grenzwertig niedrig war.
Immerhin: Die Behandlung führte zu einer gewissen Stabilisierung der Erkrankung. Die Gehstrecke nahm etwas zu, aber die echokardiographischen Variablen veränderten sich nur wenig. „Insgesamt war die Prognose extrem ungünstig, sodass wir weiterdenken mussten“, so Hansmann. Letztlich waren es die Eltern des Kindes, die das Thema Stammzelltransplantation aufbrachten – eine Methode, die bei Kindern mit PAH noch nie eingesetzt worden war. Zumindest im Westen, denn aus China gibt es Berichte über Kliniken, in der PAH-Patienten mit Stammzellen behandelt werden: „Wir haben versucht, das nachzuvollziehen, aber das war alles etwas dubios.“
Dennoch: Das Thema Stammzellen lag auf dem Tisch. Was sprach auch dagegen, wenn die einzige Alternative die Lungentransplantation im Alter von 3 Jahren war? Am Ende entschieden sich die Hannoveraner gemeinsam mit den Eltern für einen Therapieversuch mit humanen mesenchymalen Stammzellen aus der Nabelschnur (HUCMSC) – und betraten damit komplettes Neuland. Da ein Geschwisterkind unterwegs war, war es naheliegend, dessen Nabelschnur zu nutzen. „Prinzipiell muss es aber nicht die Nabelschnur von Familienmitgliedern sein. Denn HUCMSC sind immunologisch inert“, betont Hansmann.
Genau genommen handelt es sich bei dem nun publizierten, individuellen Heilversuch nicht um eine Transplantation von Stammzellen aus der Nabelschnur. Genutzt wurde das so genannte konditionierte Medium, der „Zellkultur-Überstand“ gewissermaßen. Das ist in dem – insgesamt durch mehr Rückschläge als Erfolge gekennzeichneten – Feld der Stammzelltherapien kein neuer Ansatz. Da nie nachgewiesen werden konnte, dass adulte Stammzellen im Zielgewebe wirklich „anwachsen“, gibt es die Hypothese, dass es nicht so sehr die Zellen selbst, sondern viel mehr die von ihnen produzierten Zytokin-Cocktails sind, die therapeutische Effekte auslösen.
Darauf setzten auch die Kinderkardiologen aus Hannover, in Kollaboration mit Prof. Ralf Hass, Biochemiker aus der Frauenklinik der MHH, der die MSCs aus der Nabelschnur isolierte und subkultivierte. Sie behandelten das Kind mit insgesamt fünf Infusionen aus nicht GMP-zertifiziertem, konditioniertem Medium allogener HUCMSC. Infundiert wurde zweimal über einen intrapulmonalen arteriellen und dreimal über einen zentralvenösen Katheter. Die Infusionen wurden von dem Kind problemlos vertragen. Allergische Reaktionen traten nicht auf. „Da fiel uns schon ein Stein vom Herzen. Solche individuellen Heilversuche sind immer mit einem Risiko vergesellschaftet“, so Hansmann.
Richtig begeistert waren Ärzte und Eltern dann ein paar Wochen später: Nachdem das Mädchen zuvor 12 Monate lang praktisch gar nicht gewachsen war, legte es nach Beginn der Infusionen 10 cm innerhalb von 3 Monaten zu, was einem Sprung von der 5. auf die 65. Perzentile entsprach. Die Distanz im 6-Minuten-Gehtest stieg von 370 Meter vor Therapie auf 485 Meter danach. Vor allem aber verbesserten sich der echokardiographische Befund und der Herzkatheterbefund. Der pulmonalarterielle Druck fiel um rund ein Viertel und die systolische Funktion des rechten Ventrikels stieg deutlich an – bis hin zu einer Normalisierung, die auch mittels Kardio-MRT bestätigt wurde. Die ganze Therapiesequenz ist jetzt 3 Jahre her. Dem heute 6-jährigen Mädchen geht es gut – es ist annähernd normal belastbar.
Hansmann ist nicht „nur“ Arzt, sondern auch Wissenschaftler und entsprechend hat er mit seinem Team versucht, herauszubekommen, was da passiert sein könnte. Dass das Kind „geheilt“ sein könnte, davon geht er nicht aus. Die PAH mit zugrundeliegender Genmutation verlaufen nicht immer kontinuierlich progressiv, sondern in Schüben, sodass durchaus denkbar ist, dass es irgendwann in Zukunft wieder zu einer Verschlechterung kommt. Das Gen, der Auslöser, ist weiterhin vorhanden, natürlich. Trotzdem scheint die Therapie mit dem Nabelschnurpräparat durchschlagend gewirkt zu haben.
„Eine Hypothese ist, dass der Therapieeffekt auf Prostaglandin E2 basiert, das sowohl regenerativ als auch immunmodulatorisch wirkt“, so Hansmann. Dafür fanden sich in der Tat Hinweise: In Einzelzellanalysen jener Stammzellen, die die Basis für das infundierte, zellfreie Medium bildeten, zeigte sich eine starke Aktivität von zwei PGE2-Synthese-Enzymen. Passend dazu konnten die Forscher bei dem Kind einen Abfall unterschiedlicher Biomarker im Plasma nachweisen, die mit PGE2 zusammenhängen, darunter der Fibrosemarker NEDD9, der Marker für Gefäßverletzung ICAM-1 und verschiedene inflammatorische Marker. Auch war die Konzentration des regenerativ, anti-proliferativ und immunregulatorisch wirkenden PGE2 im infundierten konditionierten Medium sehr hoch.
Auf die Einzelzellanalysen folgten weitere Transkriptomanalysen in mesenchymalen Stammzellen mehrerer Nabelschnüre, mit denen sich das Spektrum der möglichen Effekte der Stammzelltherapie weiter ausleuchten ließ. Dabei fanden sich Hinweise auf eine Verbesserung der Funktion der Mitochondrien, auf regenerative Effekte, auf Stärkung der Autophagie, also des Abbaus potenziell toxischer Lipid-Metabolite, sowie auf eine Aktivierung entzündungshemmender Signalwege.
Dass der Fallbericht die Gefahr birgt, dass in Hannover jetzt Familien aus aller Welt anklopfen, ist Hansmann bewusst. Er muss hier aber etwas bremsen: Eine Serie von Therapieversuchen soll es nicht geben. „Wir müssen das jetzt systematisch untersuchen, idealerweise in Kooperation mit anderen Zentren. Dafür sind allerdings signifikante finanzielle Investitionen nötig.“
Bildquelle: Robina Weermeijer, Unsplash