Tranexamsäure wird seit Jahren zur Blutungsprophylaxe bei Operationen verwendet. Zur Verwendung in der Notfallmedizin ist die Studienlage nicht eindeutig. Dennoch empfehlen Experten den Einsatz nun in den neuen Leitlinien. Ihr Argument: Es rettet Leben und ist günstig.
Operationen, Geburten oder Traumata nach Unfällen haben einen kleinen gemeinsamen Gefahrennenner: lebensbedrohlicher Blutverlust. Weltweit sterben jedes Jahr mehr als zwei Millionen Menschen, weil es nach Verkehrsunfällen oder anderen schweren Verletzungen zu Blutungen gekommen ist. Schwerwiegende Blutungen gelten weltweit auch als wichtige Ursache für eine hohe Müttersterblichkeit nach der Geburt. Ein günstiges Medikament, das seit Jahren bei Operationen als Blutungsprophylaxe eingesetzt wird, könnte die Mortalität bei Notfällen deutlich senken. Wie werden akute Blutungsnotfälle derzeit behandelt?
Die präklinisch durchführbaren Maßnahmen zur Blutstillung haben gemäß S3-Leitlinie Polytrauma (2016) zunächst das Abdrücken der Arterie, die proximal der Verletzung liegt, im Fokus:
Gewebeschädigung, Hypoperfusion, Hämodilution, Hypothermie, Azidose und Entzündungsreaktionen spielen hinsichtlich des Polytraumas eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Störungen der Blutgerinnung. Besonders die Kombination aus niedrigem Blutdruck, Azidose und Hypothermie mündet in einen Teufelskreis. In der Vergangenheit wurde die tödliche Trias aus Hypothermie, Azidose und Verlust/Verbrauch/Verdünnung als Ursache lebensbedrohlicher Blutungen angesehen. Diese häufig auftretende Komplikation bei polytraumatisierten Patienten, die sogenannte Trauma-induzierte Koagulopathie (TIK), wurde erst vor 10 Jahren medizinisch definiert.
Die Volumenersatztherapie bei schweren Blutungen wird primär mit balancierten Elektrolytlösungen durchgeführt. Hypertone Lösungen scheinen keine Reduktion der Morbidität bzw. Letalität zu ermöglichen. Die Empfehlung für den Volumenersatz wurde in den aktuellen Leitlinien umformuliert und damit die Bedeutung von kristalloiden, isotonen Vollelektrolytlösungen gestärkt. Einig waren sich die Experten, dass die Verwendung von isotoner Kochsalzlösung nicht mehr empfohlen wird. Jahrelang war sie Standard im Rettungsdienst. Ähnlich verhält es sich mit der Hydroxyethylstärke (HES) als Infusionslösung: Im Jahr 2013 wurde der Einsatz durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erheblich eingeschränkt. In der derzeitigen Leitlinie wurde die bisherige Empfehlung von HES als kolloidales Volumenersatzmittel bei hypotensiven Traumapatienten nun gänzlich gestrichen. Der Ausschuss für Risikobewertung (PRAC) der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA rät im Januar 2018 nach einer Überprüfung, dem Mittel in der EU die Zulassung zu entziehen. Seit den 1960er Jahren ist diese Lösung Standard auf jedem Notarztwagen. Die Sicherheit der Altarznei wurde jedoch nie durch Studien geprüft. Auch HYPER-HES-Produkte und damit verbundene hypertone Lösungen wurden in den Leitlinien abgewertet. Eine andere Behandlungsmöglichkeit ist die permissive Hypotension, um einen weiteren Blutverlust durch zu hohen Blutdruck zu vermeiden. In der Primärversorgung polytraumatisierter Patienten ohne Schädel-Hirn-Trauma und ohne Rückenmarksverletzung mit persistierendem Blutverlust aus inneren Blutungsquellen wird dabei ein niedriger arterieller Mitteldruck (MAP) von > 65 mmHg (systolischer Blutdruck 80 – 100 mmHg) angestrebt. Das Ziel ist die Unterstützung der Thrombusbildung, die Verringerung der Gefahr frühzeitiger Gerinnselablösung und eine restriktive Volumentherapie, um einer Hämodilution entgegenzuwirken.
Bei akuten Blutungsnotfällen könnte ein seit mehr als 50 Jahren zugelassener Wirkstoff ins Spiel kommen, der das Potenzial hat, viele Patientenleben zu retten: Tranexamsäure. „Billige Arznei könnte 10.000 Todesfälle verhindern“ titelte bereits im Jahr 2011 die Tageszeitung DIE WELT. In der Tat kostet eine Dosis Tranexamsäure etwa 7 €. Die Substanz steht in Form von Tablette, Brausetablette, Mundspülung (NRF-Rezeptur) und Injektion zur Verfügung. Sie wird überwiegend bei operativen Blutungen eingesetzt. Das Ziel ist die Steigerung der Blutgerinnung. Tranexamsäure hemmt dabei die fibrinolytischen Eigenschaften von Plasmin, indem sich ein Komplex aus Tranexamsäure und Plasminogen bildet. Somit kann die Fibrinolyse, also die Auflösung von Blutgerinnseln, pharmakologisch unterdrückt und das Blutungsrisiko gesenkt werden. Zugelassen ist Tranexamsäure zur Prophylaxe und Behandlung von Blutungen aufgrund einer lokalen oder generalisierten Hyperfibrinolyse bei Erwachsenen und Kindern ab einem Jahr. Die Steigerung der Gerinnung nach Polytraumata oder ähnlichem ist somit ein Off-Label-Use, aber weit verbreitet. Europäische Fachgesellschaften wie die Task Force for Advanced Bleeding Care in Trauma und die European Society of Anaesthesiology (ESA) haben für die Gabe von Tranexamsäure bei traumatischen und perioperativen Blutungen eine 1A-Empfehlung ausgesprochen. Laut der S3-Leitlinie Polytrauma wird Tranexamsäure wie folgt eingesetzt:
In der über 20.000 Patienten einschließenden multizentrischen CRASH-2-Studie wurde gezeigt, dass die frühzeitige Gabe von Tranexamsäure eine im Rahmen einer traumaassoziierten Gerinnungsstörung auftretende Hyperfibrinolyse stoppen kann. Die Sterblichkeitsrate von blutenden Traumapatienten wurde in dieser Studie deutlich gesenkt. Der Effekt war am stärksten, wenn das Pharmakon innerhalb von 60 Minuten nach dem Traumaereignis gegeben wurde. Bedenkt man, dass die prähospitalen Versorgungszeiten nicht selten darüber liegen, erscheint die Gabe bereits am Notfallort sinnvoll. Die CRASH-2-Studie hat jedoch auch Schwächen und ist nur eingeschränkt repräsentativ. So ist beispielsweise die Verletzungsschwere der Patienten nicht angegeben. So wegweisend die CRASH-2-Studie auch ist, bleiben weiterhin zahlreiche Fragen offen. Es wurden keine Messungen von Gerinnungs- und Fibrinolyseparametern durchgeführt. In der Multizenterstudie befanden sich die Krankenhäuser größtenteils in Entwicklungs- oder Schwellenländern. Ob diese Daten auf das Rettungsdienstsystem in Deutschland übertragen werden können, ist unklar. Obwohl die Sterblichkeitsrate von 16 % auf 14,5 % sank, wurden keine Blutprodukte eingespart. In einer nachträglichen Subgruppenanalye an 270 Patienten lag auch ein Schädel-Hirn-Trauma (Glasgow Coma Scale 14 oder weniger) mit computertomografischen Hinweisen einer Blutung vor. Tranexamsäure verminderte die weitere Ausdehnung der Blutung auf 5,9 ml im Vergleich zu 8,1 ml bei Placebo. Dieses Ergebnis ist allerdings nicht statistisch signifikant und verfehlt den primären Endpunkt, sodass ein Nutzen der Therapie nicht als bewiesen angesehen werden kann. Auf eine Schädigung der Patienten gab es allerdings keine Hinweise. Die Rate neuer ischämischer Läsionen mit 9 % gegenüber 5 % war niedriger und auch die Sterberate wurde von 18 % auf 11 % signifikant gesenkt. Die Autoren hoffen, dass die laufende CRASH-3-Studie sowohl die Sicherheit als auch die Wirksamkeit der Tranexamsäure bei Patienten mit traumatischen Hirnblutungen belegen wird. In einer retrospektiven amerikanischen Studie von Poeran et al. wurden insgesamt 872.416 Patienten in 510 Kliniken mit schweren Blutungen erfasst. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass dank Tranexamsäure die Anzahl der Transfusionen wesentlich gesenkt werden konnte, ohne dass sich dabei die Komplikationsrisiken, einschließlich thromboembolischer Zwischenfälle und Nierenversagen, erhöht haben. Bei massiv blutenden Patienten soll möglichst frühzeitig die Gabe von 1 g Tranexamsäure über 10 Minuten, gegebenenfalls gefolgt von einer Infusion von 1 g über 8 Stunden, erfolgen.
Die ERC-Leitlinien „Kreislaufstillstand in besonderen Situationen“ sprechen sich ebenfalls für die Anwendung von Tranexamsäure aus: „Bei starken, durch alleinige Kompression nicht beherrschbaren Blutungen sollten Stauschläuche (Tourniquets) und/oder äußerliche hämostatische Substanzen zum Einsatz kommen, bei nicht komprimierbaren Blutungen Schienungen (z.B. Beckenschlinge) und die präklinische Gabe von Tranexamsäure“. In einer Metaanalyse von Gayet-Ageron et al. wurden die Daten von über 40.000 Patienten analysiert. Tranexamsäure ist am effektivsten, wenn sie maximal eine Stunde nach Blutungsbeginn infundiert wird. Die „Antifibrinolytic Trials Collaboration“ um Ian Robertson der London School of Hygiene & Tropical Medicine in London hat die Ergebnisse der beiden Studien in einer Meta-Analyse zusammengefasst, wobei die Daten der einzelnen Patienten erneut ausgewertet wurden. Die meisten Todesfälle durch Blutungen, nämlich 884 von 1.408 (63 Prozent) traten innerhalb von 12 Stunden nach Beginn der Blutung auf. Bei den postpartalen Blutungen erreichte die Zahl der Todesfälle zwei bis drei Stunden nach der Geburt ihren Höhepunkt.
Peripartale Blutungen (peripartale Hämorrhagien, PPH) gehören zu den gefürchtetsten Notfallsituationen in der Geburtshilfe. Weltweit stirbt alle 4 min eine Frau an dieser Komplikation. Damit ist die PPH mit einem Anteil von 25 Prozent die häufigste mütterliche Todesursache. In der WOMAN-Trial wurde gezeigt, dass Tranexamsäure bei der PPH die blutungsbedingte Mortalität signifikant um 19 Prozent senkte.
Nicht nur bei dramatischen Notfällen wie Polytrauma oder postpartalen Blutungen kann die Tranexamsäure eingesetzt werden. Auch bei banaler Epistaxis ist die Substanz effektiv. In einer Studie von Zahed et al. wurden 216 Notfallpatienten mit starkem Nasenbluten in zwei Gruppen eingeteilt. Eine erhielt eine anteriore Nasentamponade, die andere einen 15 cm langen Baumwollbausch, der mit Tranexamsäure-Injektionslösung (500 mg in 5 ml Lösung) getränkt war. Nach zehnminütiger Behandlung stoppte die Blutung in der Tranexamsäuregruppe bei 71 Prozent der Patienten, in der Tamponadengruppe war dies nur bei 31 Prozent der Fall. 95 Prozent der Tranexamsäurepatienten konnten innerhalb von zwei Stunden entlassen werden; mit anteriorer Tamponade waren es nur 6,4 Prozent. Erneute Blutungen innerhalb von 24 Stunden traten nach Anwendung von Tranexamsäure in 4,7 Prozent und nach Tamponade in 11 Prozent der Fälle auf. „Als Ersttherapie der idiopathischen anterioren Epistaxis hat sich die topische Applikation von Tranexamsäure-Injektionslösung der anterioren Nasentamponade als überlegen erwiesen“, lautet das Resümee der Ärzte.
Eine Umfrage von Zickenrott et al ergab, dass etwa die Hälfte der Rettungsdienste Tranexamsäure vorrätig hält. Von 163 befragten Ärztlichen Leitern Rettungsdienst (ÄLRD) haben jedoch nur 50 % den Fragebogen zurückgesendet. SOPs (Standard Operating Procedures) zur präklinischen Anwendung von Tranexamsäure existierten in 17,4 %. Eine Dosisempfehlung wurde von 76,7 % ( n = 66) der ÄLRD gegeben. Über 80 % der Dosierungsempfehlungen orientierten sich an den internationalen Empfehlungen. Auch die Arbeitsgemeinschaft in Norddeutschland tätiger Notärzte spricht sich in ihren Therapieempfehlungen für die Anwendung in der präklinischen Notfallmedizin aus. Die Datenlage zur Anwendung von Tranexamsäure in der zivilen, präklinischen Notfallmedizin ist noch recht dürftig. Dies beklagen auch Dr. Philipp Stein und Mitarbeiter vom Universitätsspital Zürich. Sie untersuchten in einer Multizenterstudie die Wirkung von Tranexamsäure an 70 Traumapatienten. Auch wenn die Patientenzahl vergleichsweise gering ist, lieferte die Studie wichtige Daten, da sie unter „europäischen präklinischen Bedingungen“ durchgeführt wurde und somit auf den deutschen Rettungsdienst übertragbar ist. Die Produktion von Fibrinogenfragmenten war in der Tranexamsäuregruppe-Gruppe signifikant geringer. Die Fibrinolyse konnte erfolgreich unterdrückt werden, was das Risiko lebensbedrohlicher Blutungen verringert.