Kein Handy, kein Laptop, kein Bildschirm – zumindest bis zum dritten Lebensjahr. Dafür setzen sich Kinder- und Jugendärzte aktuell im Rahmen einer Aktion ein. Was ich als Pädiater davon halte.
Grundsätzlich geht es bei der Aktion „Bildschirmfrei bis 3“ natürlich nicht darum, dass die Kinder erst ab 15 Uhr vor dem Bildschirm geparkt werden (haha!), sondern dass Kleinstkinder möglichst vor dem dritten Lebensjahr keinerlei Kontakt zu Bildschirmmedien bekommen. Kein Handy, kein Laptop, kein Tablet, kein Bildschirm. Am besten lässt man Kinder in diesem Alter komplett ohne Bildschirmkontakt groß werden. Screens sollten nicht existent sein.
Genau genommen ist die Aktion eine Studie, in der Eltern durch Kinder- und Jugendärzte in den jeweiligen Praxen angeworben werden, um die tatsächliche Mediennutzung in der heutigen Zeit zu erforschen. Über die App des Berufsverbandes erhalten die teilnehmenden Eltern Fragen im Rahmen der U5 bis U7a, also ab einem halben Jahr bis zum dritten Geburtstag.
Praxen, die durch Randomisierung ausgewählt wurden, bekommen ein Materialienpaket mit einem Wartezimmerplakat sowie einem Aufkleber, der „bei drei Jahre“ ins Vorsorgeheft eingeklebt wird – quasi als Zielgerade, bis dahin das Kind bildschirmfrei zu erziehen. Dieses soll die (eigentlich immer stattfindende) Medienberatung während der Vorsorgen unterstützen.
Das Nudging des Aufklebers beschränkt sich auf drei Empfehlungen: „Ich nehme mir vor:
Das wars eigentlich. Wer mehr Input braucht, findet diese auf den Seiten des BVKJ. Hier gibt es noch mehr Empfehlungen, wie Eigennutzung der Medien zu beschränken, das Kind stets bei der Mediennutzung zu begleiten oder das Kind nicht via Tracking zu verfolgen. Die offizielle Website der Aktion bietet FAQs sowie Statements verschiedener Kinderärzte und einen Nachrichten-Review.
Die kritischen Stimmen zu einer solchen Aktion sind ihrer viele – und alle bekannt. Bei Twitter, und sicher auch in anderen Netzwerken, werden sie bereits ausgetauscht. Ein „Upsi, schon passiert“ bedeutet ein humorvolles selbstkritisches Erkennen – hier kommt die Empfehlung bereits zu spät. Andere kritisieren, wir seien schließlich eine Bildschirmgesellschaft und im Bildschirmzeitalter, was denn immer diese Belehrung sollen. Außerdem begleite man sein Kind ja sowieso bei der Nutzung der Medien und so weiter blablabla. Wer schaut schon in sein Vorsorgeheft, wenn nicht grade ein Arzttermin ansteht? Was soll also der Aufkleber da?
Der Kinderarzt lehnt sich zurück und seufzt. Und sieht in den Alltag der Praxis hinein, denkt an die vielen, vielen Eltern, die auf unseren Fragebögen zu den Vorsorgeuntersuchungen eine Bildschirmnutzung von mindestens einer halben bis eine Stunde im Alter von zwei Jahren angeben, manche sogar mehr, bei den Vorschüler sind es mitunter drei Stunden. Wie bei den Angaben zum Rauchen müssen wir von höheren Werten ausgehen. Studien sind da eindeutig.
Wir sehen in der Praxis Kinder, die mit dem Handy unterhalten werden, um die Wartezeit zu überbrücken oder von einer Impfung abzulenken. Jeder kennt die Eltern, die mit dem Handy in der Hand den Kinderwagen schieben oder daddelnd auf dem Spielplatz sitzen. Ja, und auch die Folgeargumente: Das Baby schlafe schließlich, und der Dreijährige sei im Sandkasten sowieso beschäftigt. Geschenkt. Kinder verdienen die komplette Aufmerksamkeit. Beobachten Sie mal, wie oft sich Kinder per Blick ihrer Eltern versichern.
Wen erreichen wir wirklich mit einer solchen Aktion? Sind es die bewussten, mediensicheren Eltern, die ihre Kinder von Anfang an begleiten in der Mediennutzung, die ihre eigene Bildschirmzeit im Blick behalten und jeglichen Ausgleich suchen? Jeder checke kurz seine Handyzeit für heute, bevor weitergelesen wird (bei mir sind es 2 Stunden Handy und Tablet für heute, außerdem habe ich mir einen Film angesehen. Es ist erst 19 Uhr).
Zeigen nun wieder alle auf die „bildungsfernen“ Familien, denen dieses Nudging nutzt? Mag sein, dass es hier als Gedächtnisanker hilft – als Info immerhin aus der Kinderarztpraxis. Für manche hat das eine Bedeutung und Wirkung. Auf jeden Fall hat Aufklärung für viele Eltern einen Effekt, denn die Risiken einer hohen Mediennutzung in frühem Kindesalter ist zu wenigen bewusst.
Ja, ich kenne all die Bücher zur Mediennutzung, ich kenne die Fachartikel, ich sehe das Verhalten in meiner Praxis und ich sehe den Konzentrationsverlust vieler Kinder spätestens mit Eintritt in das Schulalter. Ich bin selbst computer- und internetaffin und mag keineswegs dogmatisierend auftreten. Eine Aktion wie „Bildschirmfrei bis 3“ ist auf jeden Fall ein guter Schritt. Oder mag mir jemand die Vorteile einer Bildschirmnutzung bis 3 benennen?
Wer möchte, darf in den Kommentaren die folgenden drei Fragen beantworten:
Bildquelle: Joshua Rawson-Harris, unsplash